Kraft des Geistes: Schtscharanskys neueste Briefe

Der sowjetische Aktivist und Menschenrechtler Anatolij Schtscharansky, der wegen angeblichen “Hochverrats” zu einer dreizehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, beendete zu Beginn des laufenden Jahres einen 110 Tage langen Hungerstreik. Selbstverständlich ist Schtscharanskys Gesundheitszustand besorgniserregend. Er hat Herzschmerzen und ist nicht imstande, an den täglichen Spaziergängen der Häftlinge im Gefängnishof teilzunehmen. Die Schmerzen in der Brust- und Herzgegend verstärken sich nach jeglicher körperlichen Betätigung.
Das Urteil im Schtscharansky-Prozess war darauf abgezielt, die damals in stetem Wachsen begriffene Auswanderungsbewegung der Sowjetjuden zu bremsen. Ausserdem erachtete es der Kreml für notwendig, Präsident Carter vor Augen zu fuhren, dass seine Menschenrechtskampagne in der UdSSR ihr Ziel nicht erreichen würde. Der sowjetische Sicherheitsdienst, der KGB, war auf der Suche nach einem passenden Opfer. Schtscharanskys einzige “Sünde” war sein Wunsch, nach Israel auszuwandern. Aber im Gegensatz zu vielen anderen auswanderungswilligen Sowjetjuden, die nach ihrem Ersuchen um ein Ausreisevisum ständig auf der Hut waren, mangelte es Anatolij an taktischer Umsicht. Er vertraute dem Arzt Sanja Lipawsky, der sein Wohnungsnachbar war. In ihren häufigen Gesprächen richtete Lipawsky an Anatolij provokatorische Fragen. Erst später stellte es sich heraus, dass Lipawsky ein KGB-Agent war. Am 15. März 1977 erschien in der sowjetischen Regierungszeitung “Iswestija” ein von Lipawsky verfasster Brief, der als Auftakt zum Schtscharansky-Prozess diente.
Mehrere Wochen vor Schtscharanskys Verhaftung traf sich der sowjetjüdische Aktivist mehrmals mit dem Moskauer Korrespondenten der “Los Angeles Times” Robert Toth. Der amerikanische Journalist wurde für mehrere Tage in Haft genommen. Seine Frist als Korrespondent der US-Zeitung war soeben abgelaufen. Die KGB-Leute, die ihn verhörten, drohten ihm an, er und seine Familie würden nicht heimkehren dürfen, falls er sich weigern sollte, zahlreiche in russischer Sprache verfasste Dokumente zu unterschreiben. Toth, der die russische Sprache kaum beherrschte, unterzeichnete samtliche Papiere und durfte nach den USA abreisen. Dadurch hatte er es dem KGB wesentlich erleichtert, das aus der Luft gegriffene Anklagematerial gegen Schtscharansky formell zu begründen. Die von Toth unterschriebenen Papiere figurierten während des Prozesses als Belastungsmaterial gegen Anatolij Schtscharansky.
Warum trat Schtscharansky im Herbst 1982 in einen weit über drei Monate währenden Hungerstreik? Es war seine einzige Waffe gegen die Willkür des KGB, der den Briefwechsel mit seinen Angehörigen (Mutter und Bruder) in Moskau unterbrochen und ihn der den Häftlingen zustehenden Verwandtschaftsbesuche beraubt hatte (schon 17 Monate lang werden Anatolijs Verwandte nicht zu ihm zugelassen).
Doch dank seiner Willenskraft, die ihm half, einen hundertzehntägigen Hungerstreik auszuhalten, erwirkte er es, dass die Gefängnis Verwaltung es ihm erlaubte, den Briefwechsel mit seinen Moskauer Verwandten wieder aufzunehmen.
Die zwei jüngsten Briefe Anatolij Schtscharanskys (März-April 1983), deren Text auch in den Vereinigten Staaten bekannt wurde, zeugen von der geistigen Kraft und der Intensität der intellektuellen Tätigkeit Schtscharanskys.
Anatolij widmet etwa die Hälfte des MärzBriefes seinem Gesundheitszustand. Er klagt nicht, sondern beantwortet nur die Fragen seiner Mutter. Er schreibt: “Obwohl ich meinen Optimismus nicht eingebüsst habe, bin ich mir dessen bewusst, dass meine Rekonvaleszenz viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Anfang März d.J. trat eine unerwartete Verschlechterung meines Gesundheitszustands ein. Die Schmerzen in der Herzgegend verschärften sich und ich empfand eine allgemeine Schwäche. Mir wurden Kampfereinspritzungen verabreicht. Ich beruhigte mich erst, als mein Elektrokardiogramm vom 11. März d.J. bezeugte, dass keinerlei Anzeichen eines Herzinfarkts vorlagen. Die Arzte sagten mir, dass sich das jüngste Elektrokardiogramm von dem des Jahres 1978 nur durch erhöhte Irregularität des Herzschlags unterscheidet. Doch meine allgemeine Schwäche und meine Herzschmerzen haben mich davon abgehalten, an den täglichen Spaziergängen teilzunehmen.”
Kurz nach Einstellung des Hungerstreiks fiel es Schtscharansky schwer, bei seinen täglichen kärglichen Mahlzeiten eine bisher nie verspürte Essgier zu überwinden. Doch auch in diesem schwierigen Zustand ging Anatolij seines ihm eigenen Humors nicht verlustig. Er erinnerte sich daran, dass Dante Essgier als eine der Todsünden bezeichnet hatte. Dieser “Todsünde” wollte er nicht verfallen. Aus diesem Kampf des Geistes gegen die Schwächen des Leibes ging Schtscharansky als Sieger hervor. Er zwang sich dazu, die betreffende Mahlzeit in kleine Portionen aufzuteilen und somit das Essen in die Länge zu ziehen. Auf diese Weise gelang es ihm, seiner Begierde Herr zu werden.
In den 110 Tagen seines Hungerstreiks hatte Schtscharansky aufs intensivste gelesen . «
Der zweite Teil des im März verfassten Briefs (als auch der grösste Teil des April-Briefs) Schtscharanskys ist seiner gegenwärtigen Lektüre gewidmet. Unter den Büchern, die er liest, figurieren z.B. Rainer Maria Rilkes Gedichte und dessen “Briefe an einen jungen Dichter” (in russischer Übersetzung), Joyces “The Dubliners” (in englischer Originalfassung) sowie ein von einem französischen Arabisten verfasstes Buch über den Islam. Schtscharansky plant auch, das Studium der arabischen Sprache wieder aufzunehmen.
Von besonderem Interesse ist ein im Besitz Schtscharanskys befindliches Buch, das 1981 in Moskau erschienen ist und den Titel trägt “Die Bevölkerung der Welt”. Der Verfasser, Salomon Druk (ein Sowjetjude), hat seiner Klassifizierung der Völker der Welt deren sprachliche Verwandtschaft zugrunde gelegt. Schtscharansky lobt das Buch seiner Gründlichkeit wegen. Was die Juden anbetrifft, kommt es in Salomon Druks Werk aber zu einer Absurdität ohnegleichen. In der Sowjetunion werden die Juden nicht als eine Nation betrachtet. Druk definiert den Begriff der “Juden” folgendermassen: “Die Juden sind eine Völkerschaftsgruppe, die durch gemeinsame ethnisch-sprachliche Elemente verbunden ist”. Der Verfasser des von Anatolij Schtscharansky zitierten Buchs betrachtet die Juden Israels, die ja Hebräisch sprechen, als Semiten; die Juden Europas und Amerikas, deren Muttersprache — Druk zufolge — Jiddisch ist, werden zu der germanischen Sprachgruppe gezählt.
Voller Humor bemerkt Anatolij in diesem Zusammenhang: “Folglich ist meine Natascha (Avital Schtscharansky, Anatolijs Frau, die in Israel lebt) eine Semitin, ich aber bin ein reinblütiger Arier. Meine orthodoxe Frau würde eine solche Mischehe sicherlich in Verlegenheit bringen”.
Besonderen Eindruck hat auf Schtscharansky ein von Rainer Maria Rilke zum Ausdruck gebrachter Gedanke gemacht (siehe “Briefe an einen jungen Dichter”). Rilke zufolge liegt jedermanns Schicksal in der Tiefe seiner eigenen Seele, kommt also nicht von der Aussenwelt her. In diesem Zusammenhang schreibt Anatolij: “Avital und ich haben ganz bewusst unser Schicksal gewählt. Wir haben das in unserer Seelentiefe befindliche Schicksal gemeistert und es zu unserem Leben gemacht”.
Schtscharanskys Briefe zeugen von seiner ungewöhnlichen Charakterstärke, die nicht einmal ein sowjetisches Gefängnis zu brechen vermag.

L.K.

[Aufbau Jun. 17, 1983. p.6]

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