Korruption und “Untergrund-Wirtschaft” in der UdSSR

Mit Schmiergeldern läuft alles besser

In den letzten 20 bis 25 Jahren hat sich die sowjetische “Untergrund-Wirtschaft”, die auf privaten Profit ausgerichtet ist und — in verkappter und verzerrter Form — gewisse Elemente eines Marktsystems in sich birgt, rapid entwickelt. In der Sowjetunion ist es ein offenes Geheimnis, dass sich manche Leiter von Fabriken, in denen Konsumgüter hergestellt werden, nach pflichtgetreuer Erfüllung des Plansolls am Produktionsüberschuss bereichern, wobei sie den Staat um Millionen Rubel prellen. Bestechungsgelder werden an verlässliche Amtspersonen gezahlt, so dass jeder auf seine Rechnung kommt. Natürlich sind Vorsicht und Menschenkenntnis vonnöten. Andernfalls können derartige riskante Unternehmen ein böses Ende nehmen.
Um in einem Krankenhaus von hochqualifizierten Ärzten behandelt zu werden, muss man nicht nur gute Beziehungen haben, sondern auch dem Chef- und Facharzt recht hohe Summen in unauffälligen Briefumschlägen zustecken.
Häufig schalten Taxichauffeure den Zähler aus. Da es in Moskau viel zu wenige Taxis gibt, sieht sich der Fahrgast genötigt, die beim Besteigen des Wagens vereinbarte Summe zu zahlen.
Im sowjetischen Jargon werden unter “linker Arbeit” sämtliche Erwerbstätigkeiten verstanden, die unter Umgehung der staatlichen Gesetze’ und Normen vollzogen werden. Nach Ansicht des heute im Westen lebenden sowjetischen Dissidenten W. Sorokin erfasst der “linke Markt” sämtliche Schichten der Sowjetgesellschaft — mit Ausnahme zweier Gruppen: der Sowjetelite und der Dissidenten.
Was die Sowjetelite (die sog. Nomenklatur) anbelangt, so benötigt sie keine Nebenverdienste, da ihnen alle Annehmlichkeiten unbegrenzt zur Verfügung stehen: westliche Konsumgüter, die in besonderen Geschäften zu spottbilligen Preisen erworben werden; ausgezeichnete Wohnungen und Villen; fast kostenfreier Aufenthalt in den besten Kurorten Kaukasiens und der Krim (die “Auserwählten” sind in ihren Sanatorien und Erholungsheimen vom Plebs fast völlig isoliert); West-Reisen im Rahmen von Delegationen oder Gruppen.
Während die Werktätigen der UdSSR stundenlang nach den elementarsten Lebensmitteln anstehen müssen, sind die Angehörigen der Partei- und Regierungselite solcher Sorgen völlig enthoben. Für sie gibt es sog. geschlossene Lebensmittelhandlungen, wo ihnen nicht nur Fleisch, Fisch, Gemüse, sondern auch Kaviar und Lachs preiswert angeboten werden. Der Staat sorgt für seine treuen Diener. Jedoch gibt es auch unter den Privilegierten der Sowjetgesellschaft so manche Leute, deren Habgier und Unersättlichkeit keine Grenzen kennen und die Erpressungsgelder akzeptieren.
Die winzige Gruppe sowjetischer Dissi- denten mach — aus prinzipiellen Gründen — das Spiel der “linken Dienstleistungen” nicht mit. Ausserdem sind die meisten sowjetischen Regimekritiker Intellektuelle, die kaum dazu geeignet sind, sich an dem in der “linken Wirtschaft” herrschenden Konkurrenzkampf zu beteiligen. *
Doch fast alle Arbeiter und Angestellte des Sowjetimperiums bemühen sich aufs eifrigste, den Staat zu überlisten. W. Sorokin zufolge ist Anfang der achtziger Jahre der Rubel zum ausschlaggebenden Faktor des Sowjetlebens geworden. Vor 20 Jahren war es ohne weiteres möglich, erforderliche Wohnungsreparaturen vornehmen zu lassen. Man brauchte nur das Kontor der Hausverwaltung anzurufen und darum zu bitten, einen Schlosser oder Elektromonteur zu schicken. Heute ist das keineswegs so einfach. Es hängt vom “guten Willen” des betreffenden Handwerkers ab, die nötigen Dienste zu leisten. Wenn die Mieter ihm gut zahlen, so kommt er gern. Er — nicht der Mieter — ist der Herr der Situation.
Von besonderem Interesse sind die von Sorokin in einem in der Exil-Zeitschrift “Tribüne” (Tribuna) veröffentlichten Artikel beschriebenen Zustände, die neuerdings an sowjetischen Zollämtern herrschen. Wenn Ende der sechziger Jahre ein Zollbeamter “verbotene Literatur” im Gepäck eines Ein- oder Ausreisenden entdeckte, so beschlagnahmte er die betreffenden Bücher oder Zeitschriften und erstattete darüber amtliche Meldung.
Heute hat sich die Lage geändert. Auch jetzt wird “verbotene Literatur” beschlagnahmt, doch häufig erfolgt seitens des Zollbeamten keine diesbezügliche amtliche Meldung. Der Beamte, der auf ein verhältnismässig geringe Gehalt angewiesen ist, weiss genau, dass er auf dem Schwarzmarkt für die sog. antisowjetische Literatur gutes Geld kriegen kann. Er hat seine Verbindungsleute, die ebenfalls an einem “Nebenverdienst” interessiert sind. (Laut Meldungen russischer Exil-Zeitungen kann man auf dem Moskauer und Leningrader Schwarzmarkt — zu kolossal hohen Preisen — Werke Solschenitsyns, Sinowjews und anderer heute im Westen lebender russischer Schriftsteler kaufen. Man muss nur wissen, wie und wo die Schwarzmarkt-Händler aufzuspüren sind, ohne den Verdacht der Polizei zu erregen).
Im vorigen Jahr wurde General Sotow, der Leiter der Visen- und Passbehörde, seines Amtes enthoben. Wenn sich auch Sotow selbst möglicherweise nicht bestechen liess, war die Kontrolle in seinem Ressort lax. Sowjetjüdische Einwanderer berichten, dass man vor zwei bis drei Jahren für etwa 5000 Rubel (zirka 6500 Dollar) ein Ausreisevisum kaufen konnte. Selbstverständlich musste man die nötigen Amtspersonen kennen und sich auf sie verlassen können, um sich auf einen solchen Handel einzulassen. Auch jüdische Bräute oder Bräutigame standen noch vor mehreren Jahren in hohem Preis. Auf diese Weise konnten fiktive Ehen geschlossen werden, die sich später — im Westen — auflösten.
Sorokin führt ein weiteres Beispiel für die steigende Korruption in der Sowjetgesellschaft an. Vor 20 Jahren wäre es undenkbar gewesen, an der Entscheidung eines sowjetischen Staatsanwalts zu rütteln. Heute besteht — nach Meldung sowjetischer Dissidenten — für viele Kategorien von Straftaten ein mehr oder weniger fester Preis. Wer das Geld aufzubringen vermag, kann mit einem “günstigen” Abschluss des Verfahrens rechnen und bleibt somit auf freiem Fuss. Yuri Andropows Kampf um Erhöhung der Arbeitsdisziplin und gegen Korruption in der Sowjetgesellschaft wird kaum zu dauerhaften Erfolgen führen. Am 11. Dezember 1982 berichteten die Sowjetzeitungen über eine Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU, auf der zahlreiche Klagen von Werktätigen über Bestechungen und Unterschlagungen erörtert wurden. Die Korrumpiertheit der Gesellschaft hat derartige Ausmasse angenommen, dass es Andropow für unumgänglich hielt, die Bevölkerung zu informieren, dass er, der neue Parteichef, fest entschlossen sei, mit diesem Übelstand Schluss zu machen.
Sokolow, der Direktor der grössten Lebensmittelhandlung der sowjetischen Hauptstadt, wurde unlängst verhaftet. Er wird beschuldigt, Millionen Rubel veruntreut zu haben.
Zwecks Hebung der Arbeitsdisziplin veranstaltete die Moskauer Polizei tagelange Razzien. Besucher von Kinos, Bierhallen. Badeanstalten wurden festgenommen, falls es sich erwies, dass sie die Arbeit schwänzten. Razzien gab es auch in Lebensmittelhandlungen. Auch hier war die Polizei auf der Suche nach Leuten, die ihrem Arbeitsplatz ferngeblieben waren. Die “Bummler” wurden streng verwarnt und wieder auf freien Fuss gesetzt.
Andropows Einschüchterungsversuch war von kurzer Dauer. Es lässt sich kaum erwarten, dass die Moskauer — nach diesem Warnsignal — erst nach Arbeitsschluss ihre Einkäufe machen werden, wenn die meisten Lebensmittel längst vergriffen sind.
In gegebener Situation braucht Andropow “Sündenböcke”. Deswegen ist anzunehmen, dass weitere Verhaftungen unehrlicher Verkäufer und Verwalter von Lebensmittelhandlungen folgen werden. Einige Vorsitzende der sowjetischen Kollektivwirtschaften sowie einzelne Beamte der zahlreichen Ministerien könnten zur Rechenschaft gezogen werden.
Völlig ausgeschlossen ist dagegen, dass Spitzenvertretern der sowjetischen Partei- und Regierungselite ein Haar gekrümmt wird. Trotz ihrer zahlreichen Privilegien gibt es nicht wenige sowjetische Parteimächtige, die in ihrer Habsucht und ihrem Bereicherungsdrang schwere Staatsverbrechen begehen. Im Jahr 1972 wurde Mschawanadse, der Erste Sekretär der Georgischen Sowjetrepublik, überführt, Millionen Rubel als Bestechungsgelder empfangen zu haben. Mschawanadse wurde seines Amtes enthoben und ist heute ein wohlsituierter Rentner. Auch Andropow wird die “Nomenklatur” schonen müssen.
Die Korruption und die “linke Wirtschaft” sind heute zu einem festen Bestandteil der Sowjetgesellschaft geworden. Nur eine radikale Wirtschaftsreform könnte die Situation ändern.
Zu derartigen Schlussfolgerungen kommen auch die Herausgeber und Mitarbeiter der seit 1978 in der Sowjetunion erscheinenden Untergrund-Zeitschrift “Verteidigung der wirtschaftlichen Freiheit” (1982 erschienen 10 Hefte dieser Zeitschrift). Die Herausgeber der in der UdSSR illegalen Publikation setzen sich für die teilweise Einführung einer freien Marktwirtschaft, für die Entfaltung der eigenen Initiative im Wirtschaftsbereich sowie für eine möglichst effektive Wirtschaftsreform ein.

L.K.

[Aufbau Jul. 15, 1983. p.6]

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