Solschenizyn und die “Pluralisten”

Die autoritären Ansichten eines russischen Exilschriftstellers

Ende 1983 gewahrte Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn einer der französischen Fernsehstationen ein längeres Interview. Die Pariser TV-Journalisten und -Techniker verbrachten mit dem russischen Schriftsteller mehrere Stunden in Cavendish (Vermont). Im Rahmen des populären Fernsehprogramms “Apostroph” wurde eine anderthalbstündige Sendung mit Solschenizyn ausgestrahlt.
In Paris ist Ende vergangenen Jahres eine neue, um 400 Seiten erweiterte Ausgabe von Solschenizyns historischem Roman “August 1914” sowohl in russischer Sprache als auch in französischer Ьbertragung erschienen. Die Neuerscheinung enthält ein Lenin-Fragment, das in mehreren europäischen Sprachen in Buchform unter dem Titel “Lenin in Zürich” veröffentlicht wurde. Zwei weitere historische Romane Solschenizyns sind schon vollendet. Der 65jährige Schriftsteller hofft, die Zahl seiner Romane auf sieben zu bringen. Sein Ziel ist hierbei, die “wahre” Geschichte der historischen Ereignisse zu schreiben, die zur bolschewistischen Revolution führten.
Von Interesse ist die Tatsache, dass Alexander Solschenizyn nicht nur die bolschewistische Oktoberrevolution von 1917 verdammt. Nicht weniger verwerflich erscheint ihm die ihr vorangegangene bürgerliche Revolution vom Februar desselben Jahres. In seinem französischen Fernseh interview erklärte Solschenizyn, dass er Russlands Rettung nicht vom Westen erwarte. Gewiss unterstütze er voll und ganz Präsident Reagans antisowjetische Politik. Religiöse Erneuerung sei — Alexander Solschenizyn zufolge — das einzige Mittel zur Rettung Russlands. Die von Leo Tolstoi gepredigte moralische Erneuerung sei nicht imstande, die Menschheit Ende des 20. Jahrhunderts zu retten. Heute bestehe nur “die Hoffnung auf den Glauben an eine göttliche Kraft”, deren Verkündung Solschenizyns Mission sei.
Solschenizyn behauptet ausserdem, er sei der einzige, der im Besitz der Wahrheit über Russland sei. Alle anderen, die in den letzten zehn Jahren aus der Sowjetunion ausgewandert seien (so Solschenizyn) verstünden die Geschichte ihrer Heimat nicht.
Vor mehreren Jahren nannte der russische Nobelpreisträger in einem Presseinterview die in den Westen ausgewanderten Dissidenten “Schufte, die dem Heimatland den Rücken gekehrt haben” (bekanntlich verliess Solschenizyn die UdSSR nicht aus eigenem Entschluss, sondern wurde verhaftet und ausgewiesen). Die Regimekritiker hätten, laut Solschenizyn, in der Heimat aushalten und jegliches Leid erdulden müssen. Was die Sowjetjuden anbelangt, so äusserte der Schriftsteller, in einem Gespräch mit Walter Cronkite, ziemlich kategorische Ansichten: sie mögen auswandern, aber nur nach Israel.
Kürzlich ist in Paris Solschenizyns “Nos pluralistes” betitelte Streitschrift erschienen. Hier werden diejenigen Leute beim Namen genannt, die der Schriftsteller als “Feinde Russlands” betrachtet. Zu ihnen zählen sowjetische Exilschriftsteller und Dissidenten, die in der Sowjetunion als Solschenizyns Freunde galten und ihm Hilfe erwiesen haben, wie z.B. die im Pariser Exil lebenden Schriftsteller Andrej Sinjawsky und Jefim Etkind. Nicht einmal der 1980 in der Nähe Madrids bei einem Autounfall ums Leben gekommene Regimekritiker Andrej Amalrik wird verschont.
In dem vom französischen Fernsehen ausgestrahlten Interview sagte Solschenizyn ohne Umschweife, dass er die “demokratischen Pluralisten” für die “wahren Feinde der russischen Heimat” halte.
Für Solschenizyn gibt es nur eine einzige Auffassung der russischen Geschichte, der Ursachen der Revolution: an dieser einzigen Wahrheit, an “Gottes Wahrheit” (so hiess es in dem Interview) dürfe nicht gerüttelt werden. Die von Solschenizyn verkündete Wahrheit dürfe nicht verschiedenartig ausgelegt werden.
In seiner Kampfansage an die demokratischen Pluralisten wendet sich Solschenizyn nicht nur gegen eine Vielfalt politischer Ansichten, sondern auch gegen ein Mehrparteiensystem in einem freien Russland. Solschenizyn ist Verfechter eines autoritären Regimes.
In dem Interview verstieg sich Solschenizyn sogar zur Behauptung, es seien die “pluralistisch gestimmten Sowjetdissidenten”, die angeblich auf die amerikanische Linke einen verderblichen Einfluss ausübten.
In einem der Pariser Tageszeitung “Le Monde” gewährten Interview sagte Andrej Sinjawsky bezüglich Solschenizyns Pluralistenpolemik u.a.: “Alexander Solschenizyn gebraucht das Wort Pluralist als Schimpfwort und bezeichnet damit sämtliche Dissidenten, die anderer Meinung sind als er. Den Pluralisten legt er Atheismus, Relativismus und sogar Russland-Hass zur Last. Sich selbst aber betrachtet er als Patrioten. Es geht hier um die Gedanken- und Redefreiheit. Braucht Russland diese Freiheit? Meiner Ansicht nach ist sie für unsere Heimat unumgänglich. Solange sich Solschenizyn in der Sowjetunion befand, passte ihm die Redefreiheit durchaus. Auch die Dissidenten, die ihn unterstützten und ihm beistanden, waren ihm damals recht. Im Westen aber hat mein Gevatter (Sinjawsky ist Taufpate von Solschenizyns Kindern) eine neue, völlig neue Position bezogen — es gebe nur eine einzige Wahrheit, nämlich die, die sich ihm, Solschenizyn, offenbart habe. Er spielt jetzt die Rolle eines Verkünders einer russischen ‘religiösen Erneuerung’. Obwohl ich keinesfalls Gegner einer wahren Erneuerung bin (meiner Ansicht nach ist die sog. ‘religiöse Erneuerung’ nur wenig ausgeprägt und trägt leider chauvinistische Züge), wende ich mich entschieden gegen jegliche Monopolisierung auf dem Gebiet der Kultur und des Geisteslebens. Der gegenwärtigen kommunistischen Despotie eine neue religiöse Despotie als Alternative gegenüberzustellen, scheint mir kaum attraktiv”.
Aus psychologischer Sicht ist das Phänomen Solschenizyn unmittelbar mit der sowjetischen Wirklichkeit verbunden. Ungeachtet seines Antikommunismus und Antisowjetismus ist der Schriftsteller ein Teil dieser Realität, ein Symptom der Sowjetwirklichkeit. Alexander Solschenizyn ist es nicht nur durch seine typisch sowjetische Lebensgeschichte (Krieg, Lager, Heimkehr), sondern — und zwar in erster Linie — durch seine Verdammung aller Andersdenkenden.

L.K.

[Aufbau Jun. 29, 1984. p.11]

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