Sowjethörer werden mit dem Judaismus vertraut gemacht

Neue Sendereihe von Radio Liberty

Radio Liberty, ein vom US-Kongress finanzierter Rundfunksender, hat vor kurzem mehrere Programme gestartet, die sicherlich das Interesse von Millionen Hörern in der Sowjetunion finden werden. Die Zentralstelle des Senders befindet sich in München, Zweigstellen gibt es in New York und Paris. Sitz der Verwaltung von Radio Liberty ist Washington, D.C. Die Sendungen werden in den wichtigsten Sprachen der Bevölkerung der UdSSR ausgestrahlt (Russisch, Ukrainisch, Belorussisch, Grusinisch, Armenisch u.a.).
Die jüngste Sendefolge ist den philosophischen, historischen, religiösen und sozialen Aspekten des Judaismus gewidmet. Leiter dieses wöchentlich ausgestrahlten Funkprogramms ist Arkadij Lwow, ein etwa vor zehn Jahren aus Odessa ausgewanderter sowjetjüdischer Schriftsteller, der heute seinen Wohnsitz in New York City hat. Lwow ist ein Experte auf seinem Gebiet. Er hat zahlreiche Artikel und mehrere Bücher veröffentlicht, die den Problemen des Judaismus und der Geschichte des Judentums gewidmet sind. Zurzeit werden mehrere Schriften Arkadij Lwows ins Englische übertragen.
Das neueingeführte Funkprogramm ist besonders begrüssenswert, da Radio Liberty bisher nur Fragen der christlichen Theologie, insbesondere der russisch-orthodoxen Kirche, beleuchtet hat (insgesamt werden im Monat 280 Sendestunden eingeräumt, in deren Verlauf Probleme der Rechtgläubigkeit behandelt werden). Die sich mit dem Judaismus befassenden Sendungen sind nicht nur für sowjetjüdische Rundfunkteilnehmer, sondern auch für zahlreiche christliche und mohammedanische Hörer in der UdSSR bestimmt.
Sowjetjuden, geschweige denn in der UdSSR lebende Christen und Mohammedaner, kennen weder die Geschichte des Judentums noch die philosophischen, sozialen und religiösen Aspekte des Judaismus. In der Sowjetunion ist es faktisch unmöglich, eine Bibel zu kaufen oder in einer der zahlreichen Bibliotheken zu bestellen. Die Geschichte des Judentums wird dem Sowjetleser entweder vorenthalten oder in sinnentstellenden Darstellungen geboten. Wer Glück hat, kann in den grossen Bibliotheken Moskaus oder Leningrads vorrevolutionäre Werke lesen, die die Geschichte des Judentums objektiv darstellen. Manche dieser Bücher — bei weitem nicht alle — werden dem Leser ausgehändigt. Zur Lektüre einer Bibel braucht jedoch der Besucher einer Bibliothek eine besondere Genehmigung, die aufgrund eines Schreibens der Parteiorganisation der Institution, wo der Leser tätig ist, ausgestellt wird.
In Anbetracht dieser enormen Schwierigkeiten könnte die von Radio Liberty aufgenommene Sendereihe eine Lücke im Wissen der Sowjetbürger schliessen. Diese Aufklärung ist umso wichtiger, als schon seit Ende der vierziger Jahre in den staatlichen Verlagsanstalten der UdSSR zahlreiche Bücher und Broschüren in Riesenauflagen erschienen sind, die den Judaismus und dessen philosophische und religiöse Grundlagen bewusst verzerrt dargestellt haben. Die Frage der “Erwähltheit des jüdischen Volkes” wird von offiziellen Sowjetautoren systematisch entstellt und im Sinn eines “jüdischen Rassismus” gedeutet.
In der neuen Sendereihe von Radio Liberty werden in russischer Sprache besonders wichtige religionsphilosophische Fragen beleuchtet. In diesem Zusammenhang nennt Arkadij Lwow die Themen Nächstenliebe, Altruismus und Gastfreundschaft, Schutz eines Fremdlings, Demut und Toleranz. Diese sittlich-religiösen Grundsätze werden durch Zitate aus der Thora und dem Talmud, durch Kommentare berühmter Gelehrter (z.B. Maimonides) wissenschaftlich untermauert. Da der Empfang westlicher Sendungen in den sowjetischen GroЯstädten gestört wird, bemüht man sich bei Abfassung der zu übertragenden Texte, syntaktische und stilistische Komplikationen zu vermeiden. Dadurch ist auch die Popularität der Sendungen gewährleistet.
Radio Liberty plant ausserdem eine Sendefolge, die die gegenwärtigen jüdischen Gemeinden in Osteuropa und die Situation der Sowjetjuden zum Gegenstand haben wird.

R. Herzberg

[Aufbau Feb. 15, 1985. p.6]

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