Verstärkte sowjetisch-israelische Kontakte

Als sich David Owen, der ehemalige britische Aussenminister und heutige Chef der Sozialdemokratischen Partei Englands, unlängst in Moskau mit dem neuen Sowjetführer Michail Gorbatschow traf, fragte der Brite den Generalsekretär der KPdSU unter anderem auch danach, ob die Sowjetunion die diplomatischen Beziehungen mit Israel wiederherzustellen gewillt sei. Ohne Gorbatschows eigentliche Antwort abgewartet zu haben, verneinte der sowjetische Dolmetscher Owens Frage. Gorbatschow präzisierte die voreilige Antwort des Dolmetschers durch die Erklärung “Noch nicht”.
In jüngster Zeit lässt sich eine Intensivierung der offiziellen und inoffiziellen sowjetisch-israelischen Kontakte beobachten. Anlässlich der 40-Jahr-Feier des Sieges über den Nazismus entsandte der israelische Präsident Chaim Herzog ein an Gorbatschow gerichtetes Glückwunschtelegramm folgenden Wortlauts: “Die Söhne unseres Volkes, die gegen die Nazis in den Gettos, in den Wäldern Europas und in den Armeen der Alliierten gekämpft haben und heute in Israel leben, sind des kolossalen Beitrags der Sowjetarmee zur endgültigen Zerschmetterung Nazi-Deutschlands und der Rettung der noch am Leben gebliebenen KZ-Häftlinge eingedenk”. In allen sowjetischen Zentralblättern wurde der ungekürzte Text des von Chaim Herzog unterzeichneten Glückwunschtelegramms veröffentlicht. Seit Abbruch der diplomatischen Beziehungen i.J. 1967 ist es das erste Mal, dass ein offizielles Schreiben eines israelischen Staatsmanns in der Sowjetunion veröffentlicht wurde.
Ende Mai d.J. hat Anatolij Dobrynin, der sowjetische Botschafter in Washington, den israelischen US-Botschafter Meir Rosanne empfangen. Das Gespräch dauerte 47 Minuten. Die Sowjetpresse berichtete über dieses Treffen, wobei darauf hingewiesen wurde, dass die Begegnung zwischen den Botschaftern beider Länder auf israelische Initiative erfolgt sei.

Auswanderung

       In Moskau akkreditierte Korrespondenten osteuropäischer Zeitungen betonen in ihren Berichten, dass in der sowjetischen Hauptlung der diplomatischen Beziehungen zu Israel ins Auge gefasst werde. Hierbei wird jedoch festgehalten, dass die erfolgreiche Entwicklung einer derartigen diplomatischen Aktion in allernächster Zeit kaum zu erwarten sei. Laut Berichten osteuropäischer Korrespondenten sei Moskau gewillt, Geheimverhandlungen mit einem Emissär von Schimon Peres (nicht aber mit einem Vertreter Izchak Schamirs) zu führen. Ziel solcher Verhandlungen sei ein “Package Deal”, das folgende Einzelaspekte umfassen würde: Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen, unmittelbare Beteiligung der UdSSR an den Friedensverhandlungen im Nahen Osten, Wiederbelebung des sowjetisch-israelischen Handels und eine neue sowjetjüdische Massenauswanderung (direkt nach Israel). Berichterstatter der osteuropäischen Presse behaupten — unter Hinweis auf Angaben von dem Kreml nahestehenden Persönlichkeiten —, dass “etwa 100.000 Juden aus der UdSSR nach Israel auswandern möchten” (die wahre Zahl der jüdischen Auswanderungswilligen liegt sicherlich viel höher, noch unlängst aber beharrten Repräsentanten des sog. “Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit” (Moskau], dass es in der UdSSR überhaupt keine jüdischen Auswanderungswilligen gebe). Nach Angaben osteuropäischer Korrespondenten will Moskau Auswanderungsprobleme nur im Rahmen bilateraler Gespräche mit israelischen Vertretern — unter Ausschluss Washingtons — erörtern.
Westliche Diplomaten berichten aus Moskau, dass der Kreml angesichts neuester Meldungen über die rasche Entwicklung eines atomaren Potentials Israels beunruhigt sei. Während der jüngsten Genfer Gespräche habe Aussenminister Andrej Gromyko mit seinem amerikanischen Gegenüber George Shultz über dieses Thema gesprochen. Der US-Aussenminister habe auch Gromyko vorgeschlagen, für sowjetjüdische Auswanderer Direktflüge aus der UdSSR nach Israel (oder mit Zwischenlandung in Rumänien) zu ermöglichen. Shultz brachte diese Frage auf Initiative des israelischen Ministerpräsidenten Peres zur Sprache.

Messebesuch

       In Israel wurde bekannt, dass eine Gruppe namhafter sowjetischer Industriefachleute und Volkswirtschaftler sowie entsprechende Vertreter Bulgariens, Rumäniens und der Tschechoslowakei die demnächst in Tel Aviv stattfindende Ausstellung von Industrieprojekten besuchen werden.
Die Annahme der Einladung zur Messe in Tel Aviv erfolgte kurz nach dem Besuch David Vitzums in Moskau. Vitzum, ein Mitarbeiter des israelischen Fernsehens, war in Zusammenhang mit den 40-Jahr-Feierlichkeiten in die sowjetische Hauptstadt gekommen, um eine Sendung über die Gedenkveranstaltung zusammenzustellen. Während seines Moskauer Aufenthalts führte er Gespräche mit Vertretern der sowjetischen Öffentlichkeit, so mit dem Chefredakteur des jiddischsprachigen Monatsblattes Sowjetisch Heimland, Aron Vergelis, ferner mit General Dragunsky, dem Vorsitzenden des “Antizionistischen Komitees der sowjetischen Öffentlichkeit” sowie mit dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Moskaus, Boris Grab.
Vitzum wurde auch von Eduard Rjabzew, dem Nahost-Experten der sowjetischen Nachrichtenagentur Nowosti (Neuheiten), empfangen. Nach seiner Heimkehr hat Vitzum einen längeren Artikel in der israelischen Presse veröffentlicht, in dem er seine Unterhaltung mit Rjabzew eingehend betrachtet. Der sowjetische Nahost-Experte betonte, eine Wiederherstellung der sowjetisch-israelischen Beziehungen müsse von Israel initiiert werden. Andernfalls könnten die Araber behaupten, Israel sei es gelungen, zwischen Moskau und die arabische Welt einen Keil zu treiben. Moskau sei jederzeit bereit, Israels Existenz zu gewährleisten. Nach Rjabzews Auffassung hat die amerikanische Nahost-Politik ein Fiasko erlitten. Israel müsse mit den arabischen Nachbarn und mit der PLO direkte Verhandlungen führen. Das kann — nach sowjetischer Ansicht — im Rahmen einer Konferenz, an der auch Washington und Moskau teilnehmen würden, erfolgen.
Vitzum hat aus seinen Moskauer Gesprächen folgende Folgerungen gezogen: Eine Wiederaufnahme der sowjetisch-israelischen diplomatischen Beziehungen komme für den Kreml erst dann in Frage, wenn 1) Israel sich von der Vergeblichkeit der US-Friedensbemühungen im Nahen Osten überzeugt haben werde; 2) Schimon Peres fest im Sattel sitze; und 3) nicht Andrej Gromyko, sondern Michail Gorbatschow massgebender Leiter der sowjetischen Aussenpolitik sein werde. Bei jeglicher Spekulation über die sowjetische Aussenpolitik darf nicht vergessen werden, dass sich der Kreml von Motiven pragmatisch geprägter Machtpolitik, jedoch nur dem Schein nach von ideologischen Faktoren leiten lässt. Deshalb ist eine Wende der Haltung Moskaus gegenüber Israel keineswegs auszuschliessen.

L.K.

[Aufbau Jul. 5, 1985. p.3]

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