Rationellere Verwaltung — aber keine Reformpolitik

Michail Gorbatschow hat den 25. Februar als Datum für die Eröffnung des 27. Parteitages der KPdSU gewählt. Vor genau 30 Jahren — am 25. Februar 1956 — hielt Nikita Chruschtschow seine berühmt gewordene Rede, in der er Stalins Verbrechen aufdeckte. Es war sicherlich kein Zufall, dass Gorbatschow dieses Datum wählte.
Beim Vergleich zwischen dem 20. und 27. Parteitag können unvoreingenommene politische Beobachter nicht umhin, Chruschtschows historischer Rolle und insbesondere seiner “geheimen Rede” am 25. Februar 1956 den Vorrang zu geben. Aber es ist durchaus möglich, dass Gorbatschow durch die Wahl des Datums der Sowjetbevölkerung und der Weltöffentlichkeit zeigen wollte, dass für ihn und seine Kollegen ein Neostalinismus nicht in Frage komme.
Die zurzeit in der UdSSR für Sowjetverhältnisse recht freimütigen Presse-Veröffentlichungen zeugen von einer gewissen Lockerung der allmächtigen Zensur, lassen sich aber wohl kaum als Vorboten einer wahren Liberalisierung deuten. Ьber die Privilegien für die Parteielite klagten sowohl Sowjetleser in Briefen, die von der sowjetischen Zentralpresse veröffentlicht wurden —, wie auch der Moskauer Parteichef Boris Jelzin in seiner Rede auf dem Parteikongress. Er sagte u.a.: “Es schmerzt, wenn Leute offen über die Privilegien der Führungsschicht sprechen. Meiner Meinung nach müssten alle unberechtigten Privilegien auf jedem Niveau abgeschafft werden”.
Prof. Gawriil Popow von der Moskauer Lomonossow-Universität schlug in einem in der Tageszeitung “Sowetskaja Rossija” veröffentlichten Brief vor, bei Parteiwahlen Gegenstimmen zu zählen und sogar Minderheitsmeinungen zu veröffentlichen, wenn mindestens 100 Kommunisten die betreffende Petition unterzeichnet haben.
Weder Jelzins Fürsprache für die Abschaffung der Sonderläden und Sonderkrankenhäuser der Elite noch Prof. Popows Empfehlung, die kommunistischen Gegenstimmen zu zählen, sind Anzeichen einer eventuellen Verwirklichung dieser Vorschläge. Während Politbüromitglied Jelzin die Parteiprivilegien kritisch beurteilte, hatte Geidar Alijew, gleichfalls Mitglied des Politbüros, an den Privilegien der höheren Parteischicht nichts auszusetzen.
In seiner fünfeinhalbstündigen Rede widmete Gorbatschow den Mißständen der Sowjet Wirtschaft und deren Ьberwindung besondere Aufmerksamkeit. Sowohl Gorbatschow als auch Nikolai Ryshkow, Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR, rügten Trägheit, Bürokratismus und Mangel an Initiative seitens der Partei- und Wirtschaftsleiter. Die Kremlführung gab ihr Wirtschaftsprogramm für das laufende Planjahrfünft (1986-1900) und die 15jährige Zeitspanne bis zum Jahr 2000 bekannt. Im laufenden Planjahrfünft soll das Sozialprodukt um 60 Prozent, die Arbeitsproduktivität um 20-23 Prozent ansteigen. Die Computerproduktion soll verdoppelt bis verdreifacht werden. Die Herstellung von Konsumgütern wird — dem Plan zufolge — um 30 Prozent anwachsen.
In den nächsten 15 Jahren soll das Sozialprodukt verdoppelt und die Arbeitsproduktivität sogar um 130% gesteigert werden. Gorbatschow und Ryshkow verhiessen dem Sowjetvolk, dass es auf dem Gebiet des Konsumgüterangebots keine Mangelwaren mehr geben werde.
Wie lässt sich das auf dem 27. Parteitag proklamierte Programm beurteilen? Schon über 50 Jahre lang werden in der Sowjetunion Wirtschaftsrekorde versprochen. Chruschtschow erklärte Ende der fünfziger Jahre, dass gegen 1980 die UdSSR Amerika nicht nur einholen, sondern auch überholen werde. Daraus wurde nichts. Gorbatschow ist bescheidener. Er verspricht nicht, den Westen in wirtschaftlicher Hinsicht zu überflügeln. Doch auch die von ihm angekündigten verhältnismässig bescheidenen Wirtschaftsziele erscheinen als fragwürdig, insofern der von Stalin ererbte Zentralismus nicht liquidiert werden soll.
Der neue Kurs sieht einstweilen nur eine oberflächliche Änderung im politischen und wirtschaftlichen System der Sowjetgesellschaft vor. Gefordert werden: Intensivierung der Produktion; Berücksichtigung nicht nur der Quantität, sondern auch der Qualität der erzeugten Waren; Schaffung von “Ordnung und Disziplin”; Erneuerung der Technologie; Preisänderungen, die den Produktionskosten und der Nachfrage entsprechen; Kampf dem Alkoholismus.
Der Moskauer marxistische Dissident Roy Medwedjew behauptet mit vollem Recht, dass künftig der sowjetische Zentralismus zu einer Bremse der Entwicklung werden müsse, “da sich im Lande so viele Probleme angehäuft haben, die sich nicht einfach lösen lassen, indem man nur die Verwalter und nicht auch die Methoden der Verwaltung wechselt”.
Erwähnenswert ist die von Gorbatschow angekündigte Einführung einer “Naturalsteuer” für die Sowjetbauern. 1921 hat Lenin — im Rahmen seiner Neuen Ökonomischen Politik — eine Naturalsteuer eingeführt. Nach Zahlung dieser Steuer durften die russischen Bauern ihre Agrarprodukte selbst auf dem Markt verkaufen.
Deng Xiaoping begann sein Reformprogramm durch Einführung einer Agrarsteuer. Er ging jedoch bedeutend weiter, in China wurden faktisch die Landwirtschafts-Kommunen aufgelöst. Im Gegensatz dazu ist kaum zu erwarten, dass der Kreml es wagen würde, an Stalins Wirtschaftsgrundlagen — dem Zentralismus auf dem Gebiet der Industrie und der Existenz der landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften — zu rütteln.

L.K.

[Aufbau Mar. 28, 1986. p.7]

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