Peking sucht Verbündete im Westen

Sowjetisch-chinesischer Konflikt spitzt sich zu

Von ROBERT HERZENBERG

      Der sowjetisch-chinesische Konflikt hat sich in jüngster Zeit noch weiter verschärft und weist immer ernster werdende Anzeichen eines irreversiblen Prozesses auf. In diesem Zusammenhang ist die Tatsache von Bedeutung, dass Moskau allem Anschein nach schon endgültig von seiner ehemals gehegten Illusion Abstand genommen hat, mit den künftigen Pekinger Führern nach Maos Tod ein Übereinkommen zu erzielen.
Die in den letzten Monaten immer intensiver werdende diplomatische Aktivität Chinas erregt natürlich tiefe Besorgnis im Kreml. Nach einer Reihe von prominenten Besuchern aus den asiatischen Ländern (z.B. dem Präsidenten der Philippinen Marcos, einer repräsentativen kambodschanischen Regierungsdelegation, hochgestellten Parteifunktionären aus Hanoi unter Leitung von Generalsekretär Le Duan) wurden in der chinesischen Hauptstadt Vertreter der konservativen Opposition Westeuropas mit grossem Pomp empfangen. Es handelt sich hierbei um die Visite von Edward Heath, dem ehemaligen Premierminister Grossbritanniens, und um die im laufenden Jahre zweite Peking-Fahrt von Franz Josef Strauss, dem Vorsitzenden der bayerischen CSU. Diese beiden “Erkundungsreisen” gingen um nur wenige Wochen den neulich in Peking abgehaltenen Gesprächen von Henry Kissinger mit der chinesischen Führungsspitze voraus.
Heath wurde von Mao persönlich empfangen. Im Pekinger Flughafen erklärte der britische Ex-Premier einer Gruppe von Journalisten, dass Mao während des Empfangs die sowjetische Gefahr betont habe, die nach chinesischer Auffassung sowohl gegen China als auch gegen Westeuropa gerichtet sei. Dem Empfang wohnte der chinesische Vizepremier Teng Hsiao-ping bei. Teng, der gleichzeitig auch Generalstabschef ist, hatte mit Heath eine weitere dreistündige Unterredung, deren Hauptthema die globale Politik und Stategie der UdSSR war. In seinen Äusserungen der Presse gegenüber formulierte Heath seine Eindrücke, die er während seiner Gespräche mit den chinesischen Politikern gewonnen hatte, mit folgenden Worten: “Westeuropa wird von den Chinesen als zweite Front betrachtet.”
Im ersten Halbjahr 1975 wiederholte Peking immer aufs neue, dass vornehmlich Westeuropa der Gefahr einer sowjetischen Aggression ausgesetzt sei. Hierbei wurde darauf verwiesen, dass zwei Drittel der sowjetischen Streitkräfte und Waffen im europäischen Teil der UdSSR und in den osteuropäischen Satellitenländern stationiert seien, während nur ein Drittel an der sowjetisch-chinesischen Grenze stationiert werde. Chinesischerseits erklangen Mahnrufe, der sowjetischen Gefahr eingedenk zu sein und nichts unversucht zu lassen, um ein militärisch starkes, politisch geeinigtes Westeuropa zu schaffen.
Die altruistische Besorgnis Pekings um die künftigen Schicksale Westeuropas schien nicht allzu überzeugend. In seinem Gespräch mit Edward Heath hat Mao jetzt zum ersten Mal auf die These verzichtet, derzufolge Westeuropa durch eine eventuelle sowjetische Aggression in erster Linie bedroht sei. Zur Zeit betont die maoistische Führungsspitze die Gemeinsamkeit der strategischen Interessen Westeuropas und der Volksrepublik China. Nach der nun von Mao und seinen engsten Mitarbeitern vertretenen Ansicht haben der Westen und China gleicherweise einen sowjetischen Angriff zu befürchten.
Was die chinesischen Argumente anbetrifft, die darauf hinauslaufen, Westeuropa als potentielle zweite Front darzustellen, ist Skepsis geboten. Die sowjetische Generalität ist mit den Ursachen der militärischen Niederlagen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg zur Genüge vertraut, um verstehen zu können, dass der Zwei-Fronten-Krieg Hitlers einer der Hauptgründe für dessen militärisches Fiasko war. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass der Kreml und der sowjetische Generalstab ihre Bemühungen ausgerechnet auf die strategisch unvorteilhafteste Variante eines Zwei-Fronten-Kriegs richten sollten, was faktisch einem nationalen Selbstmord gleichkäme.
Peking ist sich natürlich ständig einer Bedrohung durch seinen nördlichen Nachbarn bewusst und trifft dementsprechende Vorkehrungen. Diese Furcht vor einem sowjetischen Angriff ist auch der eigentliche Grund, warum China potentiele Verbündete im Westen sucht. Es ist kaum verwunderlich, dass Peking hierbei seinen Blick auf die westeuropäischen Konservativen richtet, deren negative Einstellung zur Détente-Politik allgemein bekannt ist.
Zu diesen konservativen Kreisen gehört Franz Josef Strauss in nicht minderem Mass als Edward Heath. Peking ist an ihm nicht weniger interessiert als er an Peking. Die chinesisch-westdeutsche Variante einer Détente, die Strauss offensichtlich der Ostpolitik der Bundesrepublik gegenüberstellt, erweckt in Peking selbstverständlich grösstes Interesse. In diesem Zusammenhang sei auf die Äusserung von Strauss nach dessen Gespräch mit dem chinesischen Aussenminister Chiao Kuan-hua verwiesen. Der Vorsitzende der CSU hob in seinem Presseinterview hervor, dass sich die chinesische Führung über das langsame Tempo der europäischen Integration, vor allem ihres militärischen Aspekts, Sorge mache. Chiao sei, Strauss zufolge, ein energischer Verfechter der unabhängigen atomaren Streitkräfte Westeuropas. Peking sei auch an einer militärischen Präsenz der US-Truppen in Europa interessiert.
Die globale Rivalität zwischen den beiden kommunistischen Grossmächten, die sich nach Beendigung des Vietnamkrieges noch weiter verschärft hat (erbitterter Kampf um Einflussphären in Südostasien), ist zu einem der politischen Hauptfaktoren der Gegenwart geworden und prägt das Antlitz unserer Zeit.

[Aufbau Nov. 7, 1975. p.7]

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