Kein Ruhmesblatt für die CIA

Neue Entwicklung im Fall Schtscharansky

Vor fast genau zwölf Monaten veröffentlichte “Iswestija” einen Brief von Dr. Sanja Lipawskv, einem ehemaligen “Regimekritiker” und Geheimagenten des KGB. In dem Brief bezichtigte Lipawsky die seit Jahren um ihre AktiLrung bemühten jüdischen Aktivisten Anatolij Schtscharansky, Alexander Lerner und Wladimir Slepak der Zusammenarbeit mit der CIA.
Elf Tage nach der Veröffentlichung des Briefes — am 15. März vergangenen Jahres — wurde Schtscharansky verhaftet. Es besteht Grund zur Annahme, dass der Prozess gegen den jüdischen Aktivisten in allernächster Zeit beginnen wird.
Schtscharanskys Verhaftung hat in der westlichen Welt — vor allem in den Vereinigten Staaten — eine Flut von Protesten hervorgerufen. Am 13. Juni 1977 setzte sich Präsident Carter auf einer Pressekonferenz persönlich für Schtscharansky ein und erklärte. Schtscharansky habe nie im Dienst der CIA gestanden.
Vor kurzem trat im Falle Schtscharansky eine neue Entwicklung ein, als sich herausstellte, dass der KGB die CIA in eine Falle gelockt hatte. Kürzlich meldete die amerikanische Presse, Lipawskv habe 1975-76 mit der CIA in Kontakt gestanden, und diese Kontakte seien durch Lipawskys eigene Initiative zustande gekommen. Gleichzeitig wurde im Westen bekannt, Schtscharansky habe eine Zeitlang in Lipawskys Wohnung Unterkunft gefunden.
In Moskau äusserten sich sowjetjüdische Dissidenten amerikanischen Korrespondenten gegenüber recht kritisch über die CIA und ihre Einstellung zum KGB und seinen Umtrieben. Nach Ansicht von Professor Naum Meiman, einem bekannten Mathematiker, dem die sowjetischen Behörden schon jahrelang die Auswanderung nach Israel verweigern, hatten die CIA-Leute “nicht gerade intelligent gehandelt”.
Meiman und Slepak — beide sind Mitglieder des inoffiziellen Helsinki-Ausschusses — wiesen auch darauf hin, dass Präsident Carter im Juni 1977 (als er die aufsehenerregende Erklärung zum Fall Schtscharansky abgab) über Lipawskys Rolle orientiert gewesen sei. Slepak meinte: “Wenn Carter gesagt hätte, dass Lipawsky für die CIA gearbeitet hat, wäre Anatolij Schtscharanskv heute weniger gefährdet.”
Obwohl jedem unvoreingenommenen Beobachter klar ist, dass Schtscharansky die ihm zur Last gelegten Vergehen nicht begangen hat, wird er vor Gericht einen schweren Stand haben. Sicher hat er seinem ehemaligen “Freund” viel anvertraut. Die sowjetischen Richter werden versuchen, ihm aus manchen unbedachten Äusserungen einen Strick zu drehen.
Worin besteht nun die Kurzsichtigkeit der CIA in der Lipawsky-Affäre? Es besteht kein Zweifel darüber, dass Lipawsky ein Doppelagent war. Seine Annäherungsversuche an die amerikanischen Diplomaten hat er im Auftrag des KGB unternommen. Nachdem es ihm gelungen war, sich in das Vertrauen der jüdischen Dissidenten einzuschleichen, machte er den US-Diplomaten das Anerbieten, ihnen Informationen über den Stand der Wissenschaft in der UdSSR zu liefern. Die Amerikaner willigten ein, liessen jedoch folgende Tatsachen unberücksichtigt: 1.) Lipawsky war imstande, das Gebäude der US-Botschaft in Moskau völlig unbehindert zu betreten, obwohl die Botschaft aufs strengste bewacht wird und für sowjetische Besucher so gut wie unzugänglich ist; 2.) Lipawsky war Arzt in einem Moskauer Führerschein-Amt und war kaum in der Lage, sich wesentliche wissenschaftliche Informationen zu verschaffen.
Bedauerlicherweise hat man in Washington die Zusammenhänge zwischen der Menschenrechtskampagne Präsident Carters und der unausbleiblichen Gegenoffensive des KGB nicht bis in alle Einzelheiten klar überblickt: Ende Januar 1977 hatte Carter dem Nobelpreisträger Andrej Sacharow sein aufsehenerregendes Antwortschreiben übersandt und kurz darauf halte er den Regimekritiker Wladimir Bukowsky im Weissen Haus empfangen. (Bukowsky war Ende 1976 gegen den in Chile inhaftierten Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Corvalan, ausgetauscht worden.) Für die Sowjets war beides eine Herausforderung ersten Ranges.
Washington scheint noch nicht in vollem Mass erkannt zu haben, wie hoch der Kreml die Ansteckungsgefahr der liberalen Ideen in Osteuropa und in der Sowjetunion einschätzt. Seit Beginn der Menschenrechtskampagne Carters war damit zu rechnen, dass der KGB zu einem massiven Gegenschlag ausholen würde. Die Kreml-Offensive ist nicht nur gegen die sowjetjüdischen Aktivisten, sondern auch gegen das Prestige de US-Präsidenten gerichtet. Carters Berater, insbesondere Zbigniew Brzezinski, haben es offensichtlich versäumt, den Präsidenten auf die Unausbleibenkeit sowjetischer Gegenmassnahmen aufmerksam zu machen und sich darauf vorzubereiten.
Bei einer realistischen, auf historischen Tatsachen fussenden, Deutung der taktischen Manöver des KGB wäre es durchaus möglich gewesen, die potentiellen Reaktionen des Kremls auf Carters Einsatz für die verfolgten sowjetischen Regimekritiker vorauszusehen und entsprechende Gegenmassnahmen zu treffen.
L.K.

[Aufbau Mar. 24, 1978. p.5]

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