Probleme der Absorbierung von Sowjetimmigranten

1976 sollte in Moskau ein wissenschaftliches Seminar der jüdischen Refuseniks stattfinden. Durch Verhaftung und Verfolgung der Teilnehmer des Symposiums gelang es dem KGB, dem sowjetischen Sicherheitsdienst, den Plan der jüdischen Aktivisten zu vereiteln. Die wissenschaftliche Tagung fand nicht statt. Dennoch konnte der grösste Teil der Vortragstexte nach Israel geschafft werden. Unter diesen Materialien befanden sich auch die Ergebnisse einer Meinungsumfrage. Prof. Benjamin Fain, ein ehemaliger Refusenik, hat die Resultate der Umfrage wissenschaftlich bearbeitet. Im April 1979 veröffentlichte er in Tel Aviv aufschlussreiche Angaben. Die Meinungsumfrage hatte 1500 Sowjetjuden aus 20 verschiedenen Städten erfasst. (Jüdische Refuseniks. Aktivisten oder auswanderungswillige Juden wurden nicht befragt.) Der Fragebogen wurde nur solchen Sowjetjuden gegeben, die 1976 nicht die Absicht hatten, auszuwandern. Die Ergebnisse sind aufschlussreich:
96 Prozent der Befragten drückten den Wunsch aus, ein Buch über jüdische Geschichte zu kaufen, falls eine solche Möglichkeit bestände;
87 Prozent sagten, sie würden gern ein jüdisches Restaurant besuchen, wenn sich ein solches in der UdSSR auftreiben liesse;
80 Prozent wollten Jiddisch lernen (60 Prozent zogen Hebräisch vor);
50 Prozent der Befragten würden ihre Kinder gern in jüdische Schulen schicken (bekanntlich gibt es solche in der UdSSR nicht);
34 Prozent der befragten Sowietjuden gaben an, dass ihre fünf engsten Freunde Juden seien; in den meisten anderen Fällen waren mindestens drei der intimsten Freunde Juden; 54 Prozent waren gegen eine Mischehe ihrer Kinder.
Von Interesse ist auch ein Bericht des Baltimore Hebrew College, das eine Meinungsumfrage unter sowjetjüdischen Immigranten vorgenommen hat. Hierbei wurden folgende Ergebnisse gezeitigt: 82 Prozent der Befragten erklärten, dass die meisten ihrer Freunde in der UdSSR Juden gewesen seien; 83 Prozent sagten, dass sie sich als Juden fühlen, aber nicht religiös sind. Im Bericht des Baltimore Hebrcw College heisst es weiter: “Man kann sich nicht der Schlussfolgerung entziehen, dass die meisten Sowjetimmigranten sich ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk durchaus bewusst sind, obwohl sie nur äusserst wenig von der Geschichte der Juden und des Judaismus kennen.”
Weit über eine Viertelmillion Sowjetjuden konnten die UdSSR nur dank ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volke verlassen. In Wien wird ihnen als Juden finanzielle Hilfe erwiesen. Was in der UdSSR ein ständiges Hindernis war, erweist sich plötzlich als “Vorzug”.
Um die Eingliederung der Sowjetimmigranten in die amerikansich-jüdischen Gemeinden zu ermöglichen, müssen die Rabbiner, Sozialfürsorger und die zahlreichen amerikanisch-jüdischen idealistisch gestimmten freiwilligen Helfer die Situation der Neuankömmlinge voll und ganz erfassen und sich mit den wichtigsten Phasen der Geschichte der Sowjetjuden vertraut machen. Man darf auch nicht übersehen, wie schwer es den Einwanderern aus kommunistischen Ländern fällt, sich in der neuen Heimat, sei es Israel oder Amerika, wo Privatinitiative und Konkurrenz dominieren, zurechtzufinden. Dazu kommt das sprachliche Hindernis.
Es wäre falsch, auf die Neuankömmlinge Druck auszuüben. Takt und Mitgefühl sind erforderlich, nicht Tadel und Vorwürfe Der Prozess der Eingliederung in die jüdische Gemeinschaft kann Jahre in Anspruch nehmen. Zum Glück ist die Zahl der Immigrantenkinder, die jüdische Tagesschulen in den USA besuchen, ständig im Wachsen begriffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass erst die junge Generation der Sowjeteinwanderer ihren Platz in den jüdischen Gemeinschaften des Landes finden wird.
Die sowjetjüdischen Immigranten sollten sowohl in Israel als auch in den westlichen Ländern die Möglichkeit finden, sachkundig über die drei Hauptströmungen im heutigen Judentum — Orthodoxie, konservative Gemeinden und Reformjudentum — informiert zu werden Nichts sollte ihnen vorenthalten werden, wie das leider zuweilen geschieht. Informationsentzug erinnert sie an die Sowjetunion.
In den USA zeigen meist orthodoxe Organisationen aktives Interesse für die Sowjetimmigranten. Konservative und Reformjuden sind in dieser Hinsicht recht gleichgültig. Sie verzichten oft auf jede Initiative, wenn es darum geht, die neuen Immigranten als gleichberechtigte Mitglieder in ihre Gemeinden aufzunehmen.
Aus psychologischen Gründen wäre es zweckmässiger, die Sowjetimmigranten vorerst mit der Geschichte ihres Volkes bekanntzumachen. Nur mit Geduld und Mitgefühl wird es gelingen, die Sowjetimmigranten in das jüdische Gemeindeleben der freien Welt einzubeziehen.

L.K.

[Aufbau Jul. 17, 1981. p.6]

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