Wohnungsnot in der Sowjetunion

In der westlichen Presse wird häufig über Mangelwaren und die schwierige Lebensmittelsituation in der UdSSR berichtet. Korrespondenten amerikanischer oder westeuropäischer Blätter können sich leicht davon überzeugen, wie es um die Nahrungsmittelbeschaffung in Moskau, Leningrad und anderen sowjetischen Grosstädten bestellt ist (in einer Reihe von Provinzstädten der UdSSR sind zurzeit Lebensmittel rationiert). Auch die zunehmenden Schwierigkeiten bei der Versorgung der Sowjetbevölkerung mit anderen Bedarfsartikeln sind weitbekannt.
Nur selten jedoch berichten westliche Korrespondenten über die in der Sowjetunion bis auf den heutigen Tag bestehende Wohnungsnot. Dieser Informationsmangel ist durchaus verständlich. Westliche Journalisten stehen nur selten in direktem Kontakt mit dem sowjetischen Durchschnittsbürger. Bestenfalls gelingt es Ausländern, das Heim sowietischer Regimekritiker oder auswanderungswilliger Intellektueller zu betreten. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass die meisten Dissidenten — ihrer sozialen Abstammung nach — zu einer zahlenmässig geringen privilegierten Gesellschaftsschicht der Sowjetunion gehören. Westliche Korrespondenten oder Touristen pflegen jedoch keine Kontakte mit Sowjetischen Arbeitern oder kleinen Angestellten, also dem Grossteil der Bevölkerung. Sowjetische Filme gewähren keinen wahrheitsgetreuen Einblick in die Wohn- und Lebensverhältnisse des Durchschnittsbürgers.
Seit der Oktoberrevolution 1917 gehorte die Wohnungsfrage zu den akutesten Problemen der Stadtbewohner des Landes. Erst in den letzten 25 Jahren hat sich die Wohnungssituation in der UdSSR ein wenig verbessert. Bis 1956 wurde der Wohnungsbau fast völlig vernachlässigt. Die alten, noch aus der Zarenzeit stammenden Wohnhäuser waren in Verfall geraten. Der den Sowjetbürgern zur Verfügung stehende “Lebensraum” war — vom westlichen Standpunkt aus — völlig unbefriedigend. Die Situation wurde durch den Zustrom von Millionen Dorfbewohnern, die entweder zu ihren städtischen Verwandten zogen oder in Industriebetrieben Arbeit fanden, bedeutend verschlimmert. Etwa bis 1960 hauste der überwiegende Teil der Moskauer Stadtbevölkerung in sog. “Kommunal-Wohnungen” (eine derartige Wohnung beherbergt mehrere Familien, wobei Küche, Abort und Badezimmer gemeinsam benutzt werden müssen). Noch heutzutage haben bei langem nicht alle Moskauer Einzelwohnungen. 20-25% der Bewohner der sowjetischen Hauptstadt leben nach wie vor in “Kommunal-Wohnungen”.
In einer sowjetischen “Privatwohnung”, die meist aus zwei “Wohnschlafzimmern” (nebst Küche, Badezimmer und Abstellkammer) besteht, leben in der Regel zwei oder drei Generationen (in einem Zimmer die Grosseltern, im anderen deren erwachsene Kinder mitsamt ihren Sprösslingen).
Erst Nikita Chruschtschew hielt es für nötig, Wohnbau grösseren Ausmasses zu betreiben. Ende der fünfziger Jahre entstanden die ersten Wohnungsbaugenossenschaften. Heute gibt es in den sowjetischen Grossstädten verhältnismässig viele Kooperativ-Wohnungen. Die Miete für solche Wohnungen ist recht hoch (etwa 60 Rubel bei einem Monatsgehalt von 250 Rubel). Um aber eine Kooperativ-Wohnung zu beziehen, muss man nicht nur gut verdienen, sondern auch Mitglied einer Wohnungsbaugenossenschaft sein. Voraussetzung hierfür sind entweder einflussreiche Bekanntschaften (meist aus hohen Parteikreisen) oder besondere Verdienste auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kunst, des Sports u.a.m. Wer nicht zur “neuen Klasse” gehört, kann sein Ziel lediglich durch Bestechungen erreichen.
Somit kommt für einen sowjetischen Durchschnittsbürger (einen Arbeiter oder kleinen Angestellten) eine Kooperativ-Wohnung wohl kaum in Frage. Er hat weder das Geld für die hohe Miete noch die erforderlichen Bekanntschaften für Aufnahme in die Wohnungsgenossenschaft.
Um eine staatliche Einzelwohnung beziehen zu dürfen, muss sich Iwanow oder Petrow an den Bezirkssowjet wenden. Falls der Antragsteller zu beweisen vermag, dass pro Person weniger als sechs Quadratmeter entfallen, ist er wohnungsberechtigt. Faktisch bedeutet das aber nur, dass er meist jahrelang warten muss, bis er endlich an die Reihe kommt. In Staatswohnungen ist die Miete niedrig (etwa drei Prozent des Monatsgehalts). Bis auf den heutigen Tag hat es das Sowjetregime nicht vermocht, die Wohnungstrage befriedigend zu lösen. Oft sind geschiedene Leute genötigt, jahrelang — trotz ihrer Zerwürfnisse — in der selben Wohnung zu leben, weil es für sie einfach keine andere Wohnstätte gibt.
Um solchen Situationen Abhilfe zu leisten, existieren in sowjetischen Grosstädten Wohnungstausch-Büros. Wenn man aber sogar einen passenden Tauschpartner findet, ist eine offizielle Genehmigung seitens städtischer Behörden erforderlich. Der bürokratische Widerstand der offiziellen Instanzen gegen womögliche formelle Unzulänglichkeiten des geplanten Tausches (unterschiedliche Grösse der Wohnungen u. dgl.) lässt sich in den meisten Fällen durch Schmiergelder überwinden. Natürlich sind auch für die Genehmigung eines Wohnungstausches einflussreiche Bekanntschaften von Nutzen.

L.K.

[Aufbau. Jul. 16, 1982. p.5]

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