Neue Varianten der sowjetischen Judenpolitik

Die jüngsten Auslassungen der Sowjetpresse über Israel und Weltjudentum erwecken zunächst den Eindruck, es habe sich da gar nichts geändert. Nach wie vor wird Zionismus dem Faschismus gleichgesetzt, nach wie vor wird der “Terrorist” Begin mit Hitler verglichen, und nach wie vor wird die israelische Armee beschuldigt, im Libanon-Feldzug Rassenmord begangen zu haben (dass die Mordtaten in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila von libanesischen Phalangisten begangen wurden, wird mit Stillschweigen übergangen).
Am 9. März d.J. veröffentlichte die Moskauer “Literaturnaja Gaseta” (Literaturzeitung) einen “Der dritte Partner” betitelten antizionistischen Artikel ihres Korrespondenten Caesar Solodar. In einem redaktionellen Vorspruch wird Meir Wilner, der Generalsekretär der moskaufreundlichen Kommunistischen Partei Israels, wie folgt zitiert: “Die Aggression Israels gegen den Libanon und die Palästinenser ist ihrem Wesen nach ein gemeinsamer israelisch-amerikanischer Krieg”.
Wer ist der “dritte Partner” in dem imperialistisch-zionistischen “Verschwörungsbund gegen den Frieden”? Solodar spricht da von den folgenden drei Partnern: den Zionisten Israels, dem amerikanischen Imperialismus und dem “internationalen Zionismus”, dessen Avantgarde angeblich die US-Zionisten bilden.
Während zur Zeit der amerikanisch-sowjetischen Détente die Attacken der Sowjetpresse hauptsächlich dem “internationalen Zionismus” und der “permanenten Aggression Israels” galten, heisst es heute — zu Beginn der Andropow-Ära — , dass sowohl die israelischen Zionisten als auch der internationale Zionismus nichts weiter als Handlanger des US-Imperialismus seien.
Solodars Hetzschrift befasst sich unmittelbar mit Problemen des internationalen Zionismus, dem “dritten Partner”. Dem Sowjetjournalisten zufolge ist der internationale Zionismus ein “treuer Verbündeter des amerikanischen Imperialismus”. Ein völlig neues Element der Sowjetpropaganda Andropowscher Prägung ist die Gegenüberstellung der “guten, werktätigen Juden” und der Zionisten, die “im Solde des US-Imperialismus stehen”. Caesar Solodar hebt in seinem Artikel mehrfach hervor, dass Hunderttausende amerikanischer Juden, Tausende in Frankreich und der Bundesrepublik Begin kritisch gegenüberstehen und den Libanon-Feldzug aufs schärfste verurteilen: “Während Hunderttausende amerikanischer Juden über das Gemetzel in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila erschüttert sind und Begin und seine Clique auffordern, die israelischen Truppen aus dem Libanon zurückzuziehen, sind die amerikanisch-jüdischen Millionäre nicht gewillt, ihre Finanzhilfe, die den politischen Kurs Menachem Begins überhaupt erst möglich macht, zu vermindern. Amerikanisches Kapital fliesst nach wie vor der israelischen Rüstungsindustrie zu”.
Solodar unterschlägt dabei die äusserst wichtige Tatsache, dass es heute in den USA finanziell und politisch einflussreiche Kräfte gibt, die gegen Israel und proarabisch eingestellt sind: Im US-Kongress besteht eine durchaus ernst zu nehmende proarabische Lobby und grosse Industriekonzerne sind fast ausschliesslich auf den Handel mit arabisehen Ländern, Israels Erzfeinden, ausgerichtet. Jede objektive Betrachtung der faktischen Lage müsste die Sowjets davon abhalten, von einer “unheildrohenden amerikanisch-zionistischen Allianz” zu reden. Was bezweckt die neue Taktik der sowjetischen Propaganda unter Andropow?
Offensichtlich soll der antizionistische Kurs noch weiter verschärft werden. Gleichzeitig ist die Sowjetpropaganda sichtlich bemüht, der These Lenins, der zufolge man zwischen werktätigen Juden und der “jüdischen Ausbeuterklasse” unterscheiden müsse, neues Leben einzuhauchen.
Die Verlogenheit der angeblichen Renaissance eines wahren “Leninismus” in der UdSSR offenbart sich jedoch darin, dass auch in den jüngsten Artikeln der Sowjetpresse zwar von Juden die Rede ist, in Klammern aber das Wort “Zionist” erscheint. In der Breschnjew-Ära bediente sich die Sowjetpresse eines anderen Tricks. Die sowjetischen Zeitungen attackierten die Zionisten, meinten aber damit die Juden schlechtweg. Der Unterschied zwischen beiden propagandistischen Spielarten ist minimal.
Warum aber figurieren heute in der Sowjetpresse — faktisch zum erstenmal seit 25 Jahren — “werktätige Juden, die gegen die Politik des Judenstaates” protestieren? Vor allem ist das ein Versuch des Kremls, einen Keil zwischen Israel und die Juden der Diaspora zu treiben. Ferner wird durch den Hinweis auf die “guten Juden”, die sich dem Begin-Kurs widersetzen, der westliche Vorwurf, der sowjetische Antisemitismus werde von oben geschürt, abgeschwächt. Schliesslich glaubt der Kreml, auf diese Weise die nötigen psychologischen Voraussetzungen für eine Wiederherstellung der diplomatischen Beziehungen mit Israel im Falle der Bildung einer Labor-Regierung zu schaffen.
Offensichtlich versucht Jurij Andropow, durch derartige Propagandatricks im Westen den Eindruck zu erwecken, dass es in der UdSSR keinerlei antisemitischen Diskriminationen geben könne. Leider sieht die Wirklichkeit anders aus (Unterdrückung der jüdischen Kultur, erhebliche Komplikationen bei der Immatrikulierung jüdischer Studenten u.a.m.).

L.K.

[Aufbau Apr. 8, 1983. p.3]

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