Rätselraten um Andropow

Gesundheitszustand des Kreml-Bosses löst Spekulationen um Nachfolgerkandidaten aus

Als Junj Andropow am 11. November 1982 — genau 24 Stunden nach dem Tod Leonid Breschnjews — zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion gewählt wurde, sagten viele westliche Beobachter bedeutsame Wandlungen voraus. Auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Innenpolitik wurden vorsichtige Reformen und Dezentralisierungsversuche erwartet. Das sich immer mehr verlangsamende Wachstum der Wirtschaft und die Erschöpfung der leicht zugänglichen Ressourcen haben äusserst ernste Probleme verursacht, deren Unabwendbarkeit vor etwa 15-20 Jahren vom Kreml wohl kaum prognostiziert worden ist Die Wirtschaft stagniert. Die Versorgung der Bevölkerung des Riesenlandes mit Lebensmitteln und elementaren Konsumgütern verschlimmert sich von Tag zu Tag. Zudem gibt die sowjetische Super macht Milliarden für ihre Satellitenländer in Osteuropa, Asien und Lateinamerika aus. Die Sowjets müssen ihren “Klienten” nicht nur massive Rüstungen liefern, sondern auch durchaus kostspielige Wirtschaftshilfe leisten.
Bezüglich der Aussenpolitik glaubten manche Kremlbeobachter, Andropow würde bedeutend grossere Flexibilität zeigen als sein Vorgänger Leonid Breschnjew. In den westlichen Blättern wurden zu Beginn der “Andropow-Ära”‘ sensationelle Ereignisse erwartet: der Kreml wurde den Fall Afghanistan aus der Sackgasse führen; die neuen Machthaber wurden vielleicht den Bau der SS-20 einstellen. Diese und ähnliche Wunschbilder wurden damals als eine mög liche politische Wende betrachtet.
Keine dieser optimistischen Voraussagen hat sich bisher bewahrheitet. Eine Zeitlang schien es, als beabsichtige Andropow die Durchführung gewisser — wenn auch beschränkter — Wirtschaftsreformen. Die Ernennung des Technokraten Michail Gorbatschew, des jüngsten Politbüro-Mitglieds (52), zu einem der Sekretäre des Zentralkomitees, wurde in manchen Kreisen westlicher Diplomaten und Journalisten als Symptom einer Reformbereitschaft der Sowjetführung gedeutet. Ende Juli verkündeten Partei und Regierung eine Reihe von Massnahmen, die auf eine vorsichtige Lockerung der starren zentralen Industrieplanung gerichtet sein könnten. Vorerst handelt es sich um ein Experiment in einzelnen Wirtschaftszweigen. Die Vorzeichen für eine sowjetische Reformpolitik sind jedoch zurzeit düster.
Jurij Andropow kündigte der Korruption und der ständig wachsenden “Untergrund-Wirtschaft” einen erbitterten Kampf an. Es ist aber durchaus zweifelhaft, dass durch Polizeimassnahmcn allein die immer mehr um sich greifende Korruption beseitigt werden kann.
Von besonderer Bedeutung ist die Ernennung Vitalij Fedortschuks, eines der führenden und besonders befürchteten Vertreter des KGB zum Innenminister des Landes. Es ist eine in der UdSSR bekannte Tatsache, dass bisher zwischen dem KGB und dem Innenministerium Rivalität und sogar gegenseitige Abneigung bestanden. Andropow hat es fertiggebracht, das Innenministerium dem KGB zu unterstellen. Die “Kooperation” dieser beiden staatlichen Institutionen hat zu verstärkten Repressalien gegen jegliche Form von Dissens gefuhrt.
Auf aussenpolitischem Gebiet hat Andropow keine ernstlichen Initiativen ergriffen. Weder bei den Genfer Verhandlungen, noch im Fall Afghanistan hat der sowjetische Partei- und Staatschef nennenswerte Konzessionen gemacht. Freilich haben Präsident Reagans antikommunistische Kreuzzugsreden die Rolle der sowjetischen Militärs gestärkt und Andropows politischen Spielraum eingeschränkt.
Bei Andropows Wahl zum Generalsekretär war die Befürwortung seiner Kandidatur durch Verteidigungsminister Dmitrij Ustinow und die Militärs von grösster Bedeutung. Andropows Aussenpolitik wurde und wird durch die Generalität massgebend beeinflusst. Je grösser die amerikanisch- sowjetischen Spannungen werden, desto bedeutender wird der Einfluss der Militärs auf die Entscheidungen des Kremls.
Obwohl Jurij Andropow die drei wichtigsten Ämter der Sowjethierarchie bekleidet (Parteisekretär, Präsident, Vorsitzender den Verteidigungsrats), darf nicht übersehen werden, dass sowohl Chruschtschew als auch Breschnjew mindestens drei Jahre benötigten, um ihre Machtposition zu festigen. Die sowjetischen Führer sitzen an der Spitze einer ins Gigantische angewachsenen zentralistischen Bürokratie, der sog. “Nomenklatur”. Das Wohlergehen der weit über eine Million zahlenden Apparatschiks hängt von der Wahrung des Status quo ab.
Vor einem Jahr wurde allgemein angenommen, Andropow könnte zum Führer des Sowjetimperiums der achtziger Jahre werden. Obwohl er 1966 einen Herzanfall erlitten hatte, zeigten sich in den ersten sechs bis sieben Monaten seiner neuen Amtstätigkeit keine besonderen Krankheitssymptome. Andropows Gesundheitsprobleme machten im Westen erstmals Schlagzeilen, als der sowjetische Partei- und Staatschef am ersten Tag des Moskau-Besuchs Bundeskanzlers Helmut Kohl nicht in Erscheinung trat. Seit dem 18. August wurde Andropow in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen.
Der sowjetische Parteichef erschien nicht einmal am 7. November auf der Ehrentribüne, als auf dem Roten Platz die Parade — anlässlich des 66. Jahrestags der bolschewistischen Revolution — stattfand. In der Geschichte der UdSSR gab es bis dahin keinen derartigen Vorfall. Drei Tage vor seinem Tod hielt es Leonid Breschnjew für unumgänglich, eine Stunde lang der Parade beizuwohnen. Die offizielle sowjetische Erklärung, der zufolge Andropow “erkältet” gewesen sei, ist kaum dazu angetan, die Zweifel über seinen Gesundheitszustand zu zerstreuen. Allem Anschein nach leidet Andropow an einer lebensgefährlichen Krankheit. Wenn auch die Arzte ihm das Leben retten können, wird Andropow kaum imstande sein, die Macht faktisch auszuüben. Deshalb ist es kaum verwunderlich, dass das Rätselraten um Andropows Nachfolger schon begonnen hat.
Andropow hat drei “jüngere” Politbüro-Mitglieder in den Vordergrund gerückt: den schon erwähnten 52jährigen Michail Gorbatschew, ferner den 60jährigen Grigorij Romanow (ehemals Leningrader Parteichef, heute Sekretär des Zentralkomitees) und schliesslich den ehemaligen KGB-Chef Aserbaidschans Gaidar Alijew (zurzeit Vollmitglied des Politbüros und stellvertretender Ministerpräsident der UdSSR).
In Kreisen westlicher Russland-Beobachter werden als eventuelle Andropow-Nachfolger Gorbatschew und Romanow genannt. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Nichtrusse (wie z.B. Alijew) die Spitzenposition der Partei einnehmen könnte. Die Tatsache, dass Romanow die Festrede anlässlich des 66. Jahrestags der Oktoberrevolution gehalten hat, ist unter Umständen ein Anzeichen dafür, dass gerade er Andropows Erbe antreten könnte. Russland würde wieder von einem “Romanow” beherrscht werden.
Auch die Kandidatur des Breschnjew-Günstlings Tschernenko ist nicht gänzlich auszuschliessen.
Die Nachfolge wird davon abhängen, wer die Interessen der wichtigsten Gruppen der Sowjethierarchie (Militär, KGB, Wirtschaft, Diplomatie) am effektivsten vertreten würde. In den letzten Jahren hat die Partei ihre ehemals tonangebende Rolle im sowjetischen Entscheidungsprozess eingebusst. Die Parteiführung koordiniert nur die oft auseinanderstrebenden Interessen der an der Macht teilhabenden Gruppen.
Die zurzeit entscheidenden Kräfte in der UdSSR sind wohl der KGB und die Militärs. Diese beiden Machtgruppen werden für den Verlauf der kommenden Ereignisse in der Sowjetunion ausschlaggebend sein.         L.K.

[Aufbau, 1983.11.25, p. 5]

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