Albanien — ein kommunistisches Land eigener Prägung

Im Jahr 1912 konnte Albanien, eines der kleinsten europäischen Länder (Fläche: 28.748 Quadratkilometer), seine Unabhängigkeit erringen. Doch die politische Selbständigkeit des Landes, das eine wichtige strategische Lage besitzt, war von kurzer Dauer. Während des Ersten Weltkriegs war Albanien Kriegsschauplatz. Erst 1920 konnte Tirana seine Unabhängigkeit wiedererlangen. Doch schon 1925 ergriff Achmet Zogu die Macht und schwang sich — drei Jahre später — zum Monarchen auf. König Zogu herrschte elf Jahre lang.
Unter Mussolini wurde Albanien 1939 von italienischen Truppen besetzt. Schon über 55 Jahre lang gibt es in Albanien keine Demokratie. Der Monarchie und der italienisch-faschistischen Besatzungsmacht folgte die von Enver Hoxha 1944 begründete kommunistische Diktatur. Obwohl das Land der Verfassung nach eine “Volksrepublik” ist, hat sich die Bevölkerung den Tyrannen bedingungslos zu fügen.
Albanien ist sogar in der kommunistischen Welt ein Sonderfall. 1961 trat — im Zusammenhang mit dem chinesisch-sowjetischen Konflikt — eine drastische Verschlechterung der Beziehungen zwischen Moskau und Tirana ein. Von 1916 bis 1968 war Albanien ein Satellitenland Chinas. Tirana erwies sich als “päpstlicher als der Past”. Als die Volksrepublik China nach Mao Zedongs Tod einen pragmatischen Kurs zu steuern begann, kritisierten die albanischen Ideologen die Pekinger “Renegaten”. 1978 stellte Peking sämtliche Wirtschaftshilfe ein. Seit dem Bruch mit China ist es jedoch zu keiner sowjetisch-albanischen Annäherung gekommen. Auch zu Jugoslawien, dem unmittelbaren kommunistischen Nachbarstaat, sind Tiranas Beziehungen äusserst gespannt.
Zudem kommt noch ein besonderer Faktor. 1967 schloss Enver Hoxha die 2169 Kirchen und Moscheen des Landes. Albanien ist der erste atheistische Staat der Welt.
Am 18. November 1983 hat Enver Hoxha, der kommunistische Diktator des Landes, seinen 75. Geburtstag gefeiert. Hoxha beherrscht Albanien schon 39 Jahre lang. Dessen drei Millionen Einwohner geben ihm “einmütig” (99,99%) ihre Stimmen ab.
Hoxha behauptet des öfteren, dass Albanien das einzige wahre sozialistische Land der Welt sei. Der albanische Parteichef verachtet China, die UdSSR und Jugoslawien. Diese drei kommunistischen Staaten sind ihm nicht “marxistisch” genug. Als es 1961 zum albanisch-sowjetischen Konflikt kam, beschuldigte Hoxha den damaligen Sowjetpremier und Parteichef Nikita Chruschtschew, er habe Josif Stalins Vermächtnis preisgegeben. Tiranas Bruch mit Moskau war für die Sowjets in strategischer Hinsicht ein Strich durch die Rechnung. Der Kreml sah sich damals genötigt, seine militärische Präsenz an der Adriatik aufzugeben. Unmittelbar vor Ausbruch der Streitigkeiten hatten die Sowjets einen Kriegsmarine-Stützpunkt in Vlora errichtet. Die sowjetischen Militärexperten und Ingenieure mussten Vlora verlassen und nach der UdSSR zurückkehren.
17 Jahre lang dauerte die chinesischalbanische Freundschaft. Doch Peking gegenüber erwies sich Enver Hoxha als unerbittlicher Gegner jeglicher pragmatischer Reformbemühungen. Hoxha zufolge ist Pragmatismus nichts weiter als “Verrat” an der “heiligen Sache von Marx, Lenin, Stalin und Mao Zedung”. Der neue Kurs Deng Xiaopings, der auch mit den Vereinigten Staaten Kontakte unterhält, ist für Enver Hoxha ein Treuebruch, der nicht verziehen werden darf.
Wie gesagt, sind auch die jugoslawisch-albanischen Beziehungen gespannt. Die albanischen Kommunisten halten Jugoslawien — vom orthodox marxistich-leninistischen Standpunkt aus — für ein völlig verkommenes Land, das sich den “Idealen Stalins” (d.h. den Idealen einen Massenmörders) widersetzt hat. Hinzu kommt der Streit um das jugoslawische Kossowo, wo zwei Millionen Albanier leben.
Hoxhas “Jugendheld” war Josif Stalin. Dem Stalinismus und Maoismus trauert er nach. Nirgendwo in der Welt gibt es heute so viele Stalin-Denkmäler wie im kleinen, von der Aussen weit isolierten Albanien. Der Stalin-Kult wird in Albanien durch den Hoxha-Kult ergänzt. General Enver Hoxha hat schon zu Lebzeiten unzählige Denkmäler und Büsten, die ihn als “genialen Führer” verherrlichen, errichten lassen.
Hoxha hat eine ruhige, melodische Stimme. Er erweckt den Eindruck eines gutmütigen Landesvaters. Doch diese äusseren Attribute täuschen. Premier Mechmut Schechu hat 27 Jahre lang (1954-1981) dem “Landesvater” treu gedient. Als Schechu jedoch häretische Gedanken zum Ausdruck brachte, denen zufolge engere Kontakte zur Aussenwelt vonnöten seien, verschwanden Schechu und dessen Gattin auf mysteriöse Weise. Gleichzeitig wurden auch mehrere Minister liquidiert, die offenbar ihren Premier vorsichtig unterstützt hatten.
Hoxha ist jedoch nicht unsterblich. Deshalb zieht er eventuelle Nachfolger heran. Unter ihnen nehmen zwei Männer eine Sonderstellung ein: Simon Stefani, der Partei-Ideologe und Chef des Sicherheitsdienstes, und Ramiz Alia, der nominelle Staatspräsident.
Trotz fast 40jähriger Diktatur gibt es in dem kleinen Land viele Dissidenten, die aber aufs schnellste inhaftiert und “unschädlich” gemacht werden. Unter den politischen Häftlingen befinden sich zahlreiche Priester und Mullahs.
Amerikanischen, sowjetischen, jugoslawischen Staatsbürgern sowie Vertretern der meisten Länder der Welt ist die Einreise nach Albanien verboten. In Tirana gibt es nur eine einzige ausländische Botschaft — die diplomatische Vertretung Rumäniens. Ausländischen Korrespondenten haben es in Albanien äusserst schwer. Ständige Korrespondenten aus dem Ausland gibt es einfach nicht. Nur in Ausnahmefällen können Journalisten in dieses “urheilige Land des bisher ungetrübten Kommunismus Stalinscher Prägung” gelangen.
Was die Wirtschaft anbetrifft, so werden Maschinen, Ersatzteile, Chemikalien und Gummiprodukte eingeführt. Der Import dient voll und ganz der Industrialisierung des Landes. Albanien exportiert Rohöl, Chrom, Kupfer, Nickel.
Zurzeit funktioniert regelmässiger Fährenverkehr zwischen dem italienischen Triest und der albanischen Hafenstadt Dürres.
Ungeachtet des albanisch-chinesichen Ideologie-Streits weilte unlängst eine Pekinger Delegation in Tirana, um Handelsbesprechungen zu führen. Die Chinesen sind am albanischen Chrom interessiert und offerieren ihrerseits Ersatzteile für die albanische Industrie.
Die kommunistische Führung Albaniens unternimmt keine Auslandsreisen. “Dafür haben wir keine Zeit. Der Aufbau des Sozialismus nimmt uns völlig in Anspruch”, erklären meist die offiziellen Vertreter Tiranas Ausländern gegenüber.
Privatautos sind in Albanien verboten. An öffentlichen Plätzen darf nicht gesungen werden. Es gibt kein Privateigentum. Steuern sind abgeschafft worden.
Obwohl Albanien das ärmste Land Europas ist, bemüht sich die kommunistische Führung, die Bodenschätze und die landwirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes maximal zu nutzen. Ausser der Viehzucht ist die Landwirtschaft durchaus entwickelt. Im Gegensatz zu den Ländern des Sowjetblocks werden die Kollektivbauern wirtschaften allmählich in staatliche Grossbauernwirtschaften verwandelt. Unlängst wurde den Bauern verboten, eigenes Vieh zu besitzen (eine Ausnahme bilden die Gebirgsgegenden). Hunger gibt es in Albanien nicht. Was nach Enver Hoxha kommt, lässt sich heute nicht voraussagen. Über kurz oder lang müsste es zu einer Annäherung an die übrige Welt kommen.

R. Herzenberg

[Aufbau Dec. 23, 1983. p.7]

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