Späte Reue einer ehemaligen Stalinistin

Raisa Orlova: “Memoirs”. Aus dem Russischen ins Englische übertragen von Samuel Cioran. Verlag: Random House, New York. 366 Seiten. $20.00.

Raisa Orlovas unlängst ins Englische übertragene Memoiren sind eine Beichte, ein schonungsloses Schuldbekenntnis. Am 12. November 1980 war die Verfasserin der “Lebenserinnerungen”, die sie 1961-1980 niedergeschrieben hat, gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Es gelang Orlova, ihr Manuskript in die Bundesrepublik Deutschland zu schaffen.
Schon im Januar 1981 wurde Raisa Orlova — zusammen mit ihrem Mann Lew Kopelew — ausgebürgert. Heute lebt das Ehepaar in Köln. Orlova und der Germanist Kopelew (er diente übrigens in Solschenizyns Roman “Der erste Kreis der Hölle” als Vorbild der Gestalt des Rubin) haben in Deutschland einflussreiche Freunde und führen ein materiell gesichertes Leben. Dennoch wird es Raisa Orlova wohl kaum vergönnt sein, ihre Kinder und Enkelkinder in der UdSSR wiederzusehen.
Raisa Orlovas Lebenserinnerungen nehmen in der Memoirenliteratur der heute im westlichen Exil lebenden Sowjetintellektuellen einen Sonderplatz ein. Während innerhalb des letzten Jahrzehnts im Westen zumeist Bücher prominenter Sowjetdissidenten veröffentlicht wurden, die verschiedene Erscheinungsformen des in Russland herrschenden Totalitarismus behandeln, ist Orlovas Hauptproblem ihre eigene politische Blindheit während der Stalin-Ära. Als sie im März 1953 die Nachricht von Stalins Tod erfuhr, weinte sie. Von ihrer Schulzeit an glaubte sie an das “kommunistische Ideal”, dessen Verkörperung sie in Stalin erblickte.
Es gehört viel Mut dazu, heute im Westen eine derartige Verblendung einzugestehen. Orlova begriff einfach nicht, was 1937-1938 in der UdSSR vor sich ging, als Millionen unschuldiger Menschen, verschwanden Orlovas Vater, der in einem Moskauer Staatsverlag tätig war, wurde nur degradiert, aber nicht deportiert. Als der Vater seine damals 20jährige Tochter fragte, wie sie reagieren würde, falls man ihn verhaften sollte, lautete, Raisas Antwort: “Ich würde annehmen, dass du schuldig bist”. Heute begreift Orlova, dass ihre Antwort ungeheuerlich war. Der Vater hatte sicherlich andere Worte erwartet, sonst hätte er nicht danach gefragt.
Als Studentin am Moskauer Institut für Philosophie, Literatur und Geschichte stimmte sie in Jungkommunistenversammlungen — mit fast allen übrigen ihrer Studienfreunde — für die von der Partei vorgelegten Resolutionen, denen zufolge die Töchter und Söhne der “Staatsfeinde” relegiert werden müssen und die “verbrecherischen Väter” die Todesstrafe verdienen.
Ein anderes Beispiel: Nach Absolvierung des Instituts arbeitete Orlova (gebürtige Liberson) im VOKS, im sowjetischen Amt für kulturelle Kontakte mit dem Ausland. Ein Kollege, Jurij K., hatte mit ihr einst ein offenes Gespräch geführt. Während der Unterhaltung hatte er u.a. gesagt: “Wenn das Zentralkomitee der Partei dich beauftragen würde, Kinder zu erhängen, würdest du die ganze Nacht heulen, aber am Morgen den Befehl ausführen”. Auf einer Parteiversammlung, die darüber entscheiden sollte, ob Jurij in die Partei aufgenommen werden könne, erhob sich Orlova und erzählte die “Kindermord-Geschichte”. Der junge Mann wurde entlassen. Raisa Orlova schreibt: “Ich dachte nicht an ihn und wusste nicht, wie es ihm später ergangen war”.
1956 heiratete Raisa Orlova den Schriftsteller Lew Kopelew (es war ihre dritte Ehe). Nach dem 20. Parteikongress begann Orlovas langsamer geistig-politischer Umorientierungsprozess. Kopelew setzte sich offen für die verhafteten Autoren Sinjawsky und Daniel ein. Ihm wurde deshalb Berufsverbot auferlegt.
Orlova galt in der UdSSR als Expertin für US-Literatur. Ihre Dissertation lautete: “Die Gestalt des Kommunisten in der amerikanischen Literatur 1945-1950”. Mehrere Jahre lang arbeitete sie in der Redaktion der Sowjetzeitschrift “Innostrannaja Literatura” (Fremdliteratur).
Ende der sechziger Jahre begriff Raisa Orlova, dass eine neue Generation herangewachsen war, die nicht davor zurückschreckte, die Partei zu kritisieren (wie z.B. Kopelews Schwiegersohn, Pawel Litwinow, der — zusammen mit einigen anderen Dissidenten — auf dem Roten Platz gegen die Invasion der Tschechoslowakei protestierte).
Lew Kopelew und seine Frau waren mit Andrej Sacharow und Jelena Bonner befreundet. An Sacharows Kampf für Wahrung der Menschenrechte in der UdSSR nahm Orlova nicht teil. Viele Seiten des Buches sind Sacharow, seiner Schlichtheit, seiner Hilfsbereitschaft gewidmet. Erst 1980, als Sacharow nach Gorki verbannt wurde, unterzeichnete Orlova — zusammen mit Kopelew — ein Protestschreiben gegen diesen Willkürakt. Bald darauf wurde Raisa Orlova aus dem Schriftstellerverband und aus der Partei ausgeschlossen.
Orlovas Buch ist ein mutiges Reuebekenntnis, das zur Erkenntnis der Mentalität des Homo sovieticus beiträgt.

L.K.

[Aufbau Aug. 3, 1984. p.9]

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