Drama im Odessaer Hafen

Sowjetjüdische Emigranten durften nicht ihre Angehörigen sehen

Seit geraumer Zeit geht in sowjetjüdischen Emigrantenkreisen das Gerücht um, dass es aus der UdSSR stammenden US-Bürgern möglich sei, im Rahmen einer Russlandreise ihre sowjetischen Verwandten (Eltern, erwachsene Kinder, Geschwister) zu sehen und mit ihnen kurze Zeit zu sprechen. Man erzählte von Auswanderern, denen es geglückt sei, von Finnland aus eine Busfahrt nach Leningrad zu unternehmen, wo sie angeblich ihre Nächsten zu Gesicht bekommen hätten. Doch niemand war imstande, die Namen der Glücklichen zu nennen. Allmählich waren die Russlandfahrten zu einer Art Legende geworden.
Erst jetzt berichtete die in New York erscheinende russisschsprachige Tageszeitung Novoye Russkoye Slovo, was sich im Juli d.J. während einer Russlandfahrt des sowjetischen Dampfers “Leonid Breschnjew” tatsächlich ereignet hat. Eine englische Firma hatte den Fahrgastdampfer gechartert. In westeuropäischen und nordamerikanischen Reisebüros wurde für die Vergnügungen an Bord der “Leonid Breschnjew” schon seit Mitte Mai geworben. Der Dampfer sollte — ausser einer Reihe von westeuropäischen Hafenstädten — auch Varna (Bulgarien), Jalta und Odessa (UdSSR) anlaufen.
Im Reisebüro wurde den Käufern der Schiffskarten erklärt, dass die zum Betreten der bulgarischen und sowjetischen Häfen erforderlichen Einreisevisen an Bord des Schiffes ausgehändigt würden.
Unter den zahlreichen Fahrgästen befanden sich 47 ehemalige Auswanderer aus der UdSSR. Fast alle von ihnen waren in den siebziger Jahren aus Odessa in den Westen emigriert (20 von ihnen waren im Besitz eines gültigen US-Passes, die übrigen vormaligen Sowjetbürger hatten einen bundesdeutschen Pass).
Wie es sich jetzt herausstellt, hatten die Sowjetemigranten ihren Freunden vor der Abreise beteuert, dass sie angeblich nicht damit rechneten, an Land gehen zu dürfen. Im Grund ihres Herzens hatten sie freilich gehofft, mit ihren Angehörigen kurze Zeit zu verbringen.

Unterschiedliche Behandlung

      Die Mannschaft des Fahrgastdampfers war ausschliesslich sowjetisch. Während die Kellnerinnen den Amerikanern, Engländern, Franzosen, Spaniern u.a. beim Bedienen zulächelten und mit ihnen gern plauderten, waren sie ihren ehemaligen Landleuten gegenüber kühl und reserviert. Sie hatten einfach Angst, der Parteiobrigkeit zuwiderzuhandeln.
Der Ausgangspunkt der Reise war Genua. In den westeuropäischen Häfen ging alles glatt. Sämtliche Passagiere — einschliesslich der sowjetjüdischen Emigranten — durften an Land gehen.
Alle Fahrgäste mussten dem Kapitän für die Dauer der Reise ihre Pässe abgeben. Auf die Pässe der ehemaligen Sowjetbürger wurden grüne runde Aufkleber geheftet, auf die Pässe der übrigen Fahrgäste gelbe Zettelchen.
Als die “Leonid Breschnjew” Varna anlief, wurden sämtlichen Fahrgästen Visen ausgestellt und die Pässe ausgehändigt. Die Sowjetemigranten hatten für sämtliche Bustouren — zwecks Besichtigung der örtlichen Sehenswürdigkeiten — schon im voraus gezahlt, um die Begegnung mit ihren Verwandten nur ja nicht zu gefährden.
Die Unannehmlichkeiten begannen erst in sowjetischen Gewässern. Als der Dampfer Jalta anlief, wurden allen waschechten West-Gästen Visen bewilligt. Nur fünf sowjetjüdischen Auswanderern wurden Pass und Visum bereitgestellt. Obwohl die übrigen 42 ehemaligen Sowjetbürger ihre Busfahrt bezahlt hatten, durften sie nicht an Land gehen.
Die fünf nahmen an einer Jalta-Rundreise teil. Zwei von ihnen wurden von nahen Verwandten erwartet. Der sowjetische Reiseführer erlaubte den beiden Touristen, an den Bus-Haltestellen mit ihren Angehörigen zu plaudern. Die Verwandten setzten sich in Taxis und folgten dem Bus. Die Verwandtengespräche wurden in Anwesenheit von KGB-Leuten geführt.
Nach Jalta waren aber auch die Angehöriger, derjenigen Sowjetemigranten gekommen, denen man kein Visum bewilligt hatte. Die unglücklichen, an Bord zurückgebliebenen Touristen fragten nach der Ursache der unfairen Behandlung, der sie ausgesetzt waren. Der Vertreter einer britischen Reiseagentur setzte sich für sie bei der sowjetischen Schiffsobrigkeit ein. Der Kapitän der “Leonid Breschnjew” erklärte kurz und bündig: “Ich will nicht dieser Leute wegen entlassen werden”. Den sowjetjüdischen Emigranten blieb nichts anderes übrig, als ihren Angehörigen zuzuwinken und ihnen Kusshände von Bord aus zuzuwerfen. Als die “Leonid Breschnjew” wieder in See stach, fuhren die optimistisch gestimmten Verwandten nach Odessa, da sie hofften, dort ihren Angehörigen wenigstens ein paar Worte sagen zu dürfen.

Protestaktion

       Das eigentliche Drama spielte sich im Odessaer Hafen ab. Diesmal wurden nur sechs ehemaligen Odessa-Bewohnern ihre Pässe mit Visavermerken ausgehändigt. Die übrigen 41 Exodessaer waren jedoch nicht gewillt, sich tatenlos der Willkür der Sowjetbeamten zu beugen. Sie boykottierten das Frühstück, setzten sich neben den Eingang auf den Boden des Dampfers und stimmten die amerikanische Nationalhymne an. Zu ihnen gesellten sich die spanischen Touristen, die aus Gründen der Solidarität verzichteten, an Land zu gehen.
Wegen der sowjetjüdischen Protestaktion durften nicht einmal die fünf Emigranten, die Pass und Visum schon erhalten hatten, den Dampfer verlassen.
Mittlerweile waren zahlreiche Verwandte, die aus verschiedenen Städten der UdSSR angereist waren, im Hafen zusammengekommen. KGB-Agenten drängten die dichte Menschenmenge zurück. Schon bald waren die Angehörigen der Auswanderer von Polizisten und Sicherheitsbeamten eingekreist. An Bord versuchten ihre amerikanischen und bundesdeutschen Verwandten, vom Geländer und von der Kommandobrücke aus sie ausfindig zu machen, um den Eltern, Kindern oder Geschwistern etwas zuzurufen. Ein älterer Mann machte schon Anstalten, ins Wasser zu springen. Er rief: “Ich will nur eines — meine Tochter umarmen. Jahrlang habe ich auf diesen Augenblick gewartet!” Die Mannschaft hinderte ihn an der Ausführung seines waghalsigen Unternehmens. Schliesslich war es den KGB-Leuten gelungen, den Seehafen abzusperren und die Menschenmenge so weit zurückzudrängen, dass die an Bord befindlichen Verwandten nicht mehr erkennbar waren. Um die Rufe und Gegenrufe gänzlich zum Verstummen zu bringen, ertönte aus dem Schalltrichter dröhnende Marschmusik.
Als die “Leonid Breschnjew” wieder in See stach, schluchzten viele der Auswanderer. Es waren keine Tränen des Heimwehs, sondern der Verzweiflung. Auf der Rückreise nach Genua verschenkten die um ihre Hoffnung betrogenen Touristen die für die Verwandten bestimmten Artikel. Nun lächelten die Kellnerinnen und sagten: “Kommt doch bald wieder”. Ein gutmütiger Sowjetmatrose meinte: “Mit euren US-Pässen seid ihr überall willkommen. Nur nicht bei uns”.
Die 47 ehemaligen Sowjetbürger waren keine Dissidenten oder Regimekritiker. Die Sowjetbehörden verweigerten ihnen ein fundamentales Menschenrecht — mit ihren Verwandten zusammenzutreffen.

L.K.

[Aufbau Sep. 13, 1985. p.23]

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