Ruhm und früher Tod des sowjetischen Balladensängers Visotsky
Pavel Leonidov: “Vladimir Visotsky i drugije” (Vladimir Visotsky and the Others). Russischer Originaltext. New York Russian Publishing Co. New York. 253 Seiten. $17,50.
Mitte der sechziger Jahre gelangte der Lieder- und Balladensänger Vladimir Visotsky in der UdSSR zu enormer Popularität. Seine in Freundeskreisen auf Tonband aufgenommenen Lieder waren und sind fast jedem Sowjetbürger (und in nicht minderem Mass russischen Auswanderern) vertraut. Darunter gab es satirische Lieder, die dem sowjetischen Alltag gewidmet sind. Visotsky verfasste auch Sport- und Soldatenlieder sowie Balladen allgemein menschlichen, philosophischen Inhalts. In gewisser Hinsicht lässt sich Visotsky mit dem aus der DDR ausgebürgerten Liedermacher Wolf Biermann vergleichen.
Vladimir Visotsky (1938-1980) sang seine Lieder — mit eigener Gitarrenbegleitung — mit der für ihn kennzeichnenden heiseren Stimme. Durch die monotone musikalische Vortragsweise wurde die Stupidität und Absurdität des sowjetischen Alltagslebens besonders akzentuiert.
Visotskys musikalisch-dichterisches Schaffen war jedoch nie antikommunistisch ausgerichtet. Seine Lieder drückten die innere Welt von Millionen Sowjetbürgern aus, die oft im Trunk der Eintönigkeit ihres öden Lebens zu entkommen suchen.
Vladimir Visotsky war nicht nur Lieder- und Balladensänger, sondern auch Film- und Theaterschauspieler. Yuri Lyubimov, weltbekannter Regisseur des experimentellen Taganka-Theaters in Moskau, vertraute Visotsky wichtige Rollen an (Shakespeares “Hamlet”, Brechts “Galileo Galilei” u.a.m.). Und doch war Visotskys Finanzlage miserabel. Seine Lieder brachten ihm so gut wie nichts ein. Die offiziellen Sowjetbehörden ignorierten ihn. Nur in seltenen Fällen durfte er öffentliche Konzerte geben. Am Taganka-Theater verdiente er nur 130 Rubel (etwa 170 Dollar). Trotz seines landesweiten Ruhms wurden ihm nur in Ausnahmefällen Filmrollen angeboten. Vladimir Visotsky war in der UdSSR ein “schwarzes Schaf”. Die Ehe mit der französischen Filmschauspielerin Marina Vladi, die russischer Herkunft ist, wurde zu einem Wendepunkt in seinem Leben. Die Behörden bewilligten dem Liedermacher Reisen in den Westen. In den siebziger Jahren gastierte er in Frankreich, Kanada und den USA. “Aufbau”-Lesern mag er in Erinnerung sein von seinem Auftritt vor einigen Jahren in der CBS-Sendung “60 Minutes”. Auf Dan Rathers Frage, ob er auch sogenannte Détente-Lieder verfasse, antwortete der russische Sänger (übrigens war Visotsky Halbjude): “Ich verfasse keine politischen Lieder”. Hierauf trug er sein berühmtes Lied “SOS” (“Rettet unsere Seelen”) vor.
Visotsky starb 1980 im Alter von 42 Jahren. Sein Begräbnis wurde in Moskau zu einer Art Massenkundgebung. Zu seinem frühzeitigen Tod trugen Alkoholmissbrauch und zahlreiche Enttäuschungen bei. Erst nach seinem Tod veröffentlichten die Sowjets einen Gedichtband Visotskys. Zu Lebzeiten war diesem grossen russischen Dichter und Chansonnier jegliche Publikationsmöglichkeit versagt gewesen.
Dem Leben und Schaffen Visotskys ist Pavel Leonidovs reichillustriertes Buch “Vladimir Visotsky and the Others” gewidmet. Leonidov kannte Visotsky seit früher Jugend. Leonidov selbst, der heute in New York ansässig ist, war in Moskau jahrelang als Gastspiel-Administrator des “Goskonzerts” (der staatlichen Konzert-Organisation) tätig. Auch Leonidov ist Verfasser zahlreicher Lieder. Aus seinem Buch erfährt der Leser nicht nur Einzelheiten aus dem Leben Visotskys, sondern findet hier auch durchaus interessante Schilderungen der Begegnungen des Autors mit bekannten sowjetischen Komponisten, Dirigenten, Regisseuren (z.B. Schostakowitsch, Kondrashin, Lyubimow). Das Buch trägt zu einem tieferen Verständnis des Sowjetlebens der 60er und 70er Jahre bei und gilt vielen Interessenten sicherlich als Fundgrube.
L.K.
[Aufbau. Jan. 7, 1983. p.10]