Andropows unerwarteter Schachzug

Gründung eines jüdischen antizionistischen Komitees in Moskau

Fast unmittelbar nach Abschluss der im März d.J. in Jerusalem abgehaltenen 3. Weltkonferenz für die Juden der UdSSR reagierte der Kreml auf den Appell der Konferenzteilnehmer um Wiederaufnahme der Repatriierung nach Israel und um Einstellung der “von der Sowjet-Regierung verfügten Kampagne des Antisemitismus und des Hasses gegen das jüdische Volk” auf recht unerwartete Weise: TASS und Prawda veröffentlichten ein von acht prominenten Sowjetjuden unterzeichnetes antizionistisches Manifest. Die acht Juden sind Begründer eines von der Sowjetregierung initiierten antizionistischen Komitees, das von Generaloberst David Dragunsky geleitet wird. Die übrigen sieben Mitglieder des antizionistischen Ausschusses sind sozusagen “Hofjuden” des Kremls.
Die Teilnehmer an der Jerusalemer Konferenz liessen sich von dem Gedanken leiten, dass die erste Brüsseler Weltkonferenz für Juden in der UdSSR eine Massenemigration der Juden aus der Sowjetunion einleitete. Hierbei liessen die Organisatoren des Jerusalemer Treffens völlig ausser acht, dass sich inzwischen die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen beträchtlich verschlechtert hatten.
In seinem unlängst veröffentlichten Buch “Dangerous Relations” weist der HarvardSowjetologe Adam Ulam darauf hin, dass die Détente keineswegs “ein diabolischer Sowjet-Trick” war, mit dem die USA in eine Falle gelockt werden sollte. Prof. Ulams Analyse zufolge war Moskau an einer amerikanisch-sowjetischen Détente hauptsächlich aus folgenden drei Gründen interessiert: 1) Verhinderung einer amerikanischchinesischen Annäherung; 2) Erwerbung amerikanischer Technologie und der hierfür nötigen Kredite, wodurch riskante Wirtschaftsreformen in der UdSSR vermieden werden konnten; 3) Erzielung von amerikanisch-sowjetischen Rüstungskontrollabkommen zur Verhütung eines nuklearen Wettrüstens.
Adam Ulam beleuchtet treffend die sowjetischen Motive bei der Aufnahme der Détente-Politik. Nur im Lichte dieser Beweggründe lässt sich das Phänomen der sowjetjüdischen Massenauswanderung verstehen. Eeine amerikanisch-sowjetische Entspannung ist die Voraussetzung für eine Verbesserung der Lage der Juden in der UdSSR und eine Erneuerung der “Familienzusammenführung” grösseren Masstabes. Das Klima eines neuen kalten Krieges bedroht unmittelbar auch die Sowjetjuden.
Vertreter des Weltjudentums, die glauben, dass die erste im Februar 1971 in Brüssel abgehaltene Weltkonferenz für die Massenemigration der Sowjetjuden von ausschlaggebender Bedeutung war, begreifen nicht die Wechselbeziehungen zwischen sowjetischer Aussen- und Innenpolitik. Aufrufe und Proteste des Weltjudentums können in Moskau nur dann auf günstigen Boden fallen, wenn eine allgemeine westöstliche Entspannung besteht.
Einer der wenigen, die die Aktionen und Motive des Kremls realistisch eingeschätzt haben, war Henry Kissinger. Ihm zufolge ist Moskau gegenüber eine Peitschen- und Zukkerbrot-Politik vonnöten. Richard Nixon und Henry Kissinger brachten Anfang und Mitte der siebziger Jahre die amerikanisch-sowjetische Détente zustande. Nur dank dem “amerikanischen Zuckerbrot” (Anerkennung der strategischen Parität der UdSSR durch Präsident Nixon, intensive Handelsbeziehungen zwischen beiden Supermächten u.a.m.) durften 270.000 Sowjetjuden auswandern.
Präsident Reagan und Jeane Kirkpatrick, die als Repräsentantin des US-Präsidenten an der Jerusalemer Konferenz teilnahm, nehmen sichtlich an, Moskau gegenüber sei eine einseitige “Peitschenpolitik” (ohne amerikanisches “Zuckerbrot”) besonders wirkungsvoll.
Schon 1974 konnte man sich von dem Fiasko unrealistischer Forderungen im Dialog mit Moskau überzeugen. Damals lehnten die Sowjets ein ihnen von Washington offeriertes Handelsabkommen mit der Begründung ab, das Jackson-Vanik-Amendment postuliere “freie Auswanderung aus der UdSSR”. Der vorsichtige Kissinger verhielt sich diesem Amdendment gegenüber ausgesprochen skeptisch. In inoffiziellen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen waren die Sowjets bereit, alljährlich 60.000 Juden auswandern zu lassen. Die Sowjets hatten jedoch für ihr Zugeständnis einen Milliardenbetrag erwartet.
Die Annahme, der Kreml werde sich schriftlich dazu verpflichten, eine freie Emigration zu gestatten, war naiv und völlig unrealistisch (nicht weniger unrealistisch, als es z.B. die Forderung nach Abschaffung der sowjetischen Zensur gewesen wäre).
Als der Kreml 1979 wieder hoffte, der US-Kongress werde nicht nur China, sondern auch der UdSSR den Meistbegünstigungs-Status gewähren, durften über 50.000 Juden die UdSSR verlassen.
Juri Andropow hat auf die Appelle der Jerusalemer Weltkonferenz — vom KremlStandpunkt aus — geschickt reagiert. Die Gründung eines jüdischen antizionistischen Komitees in der UdSSR leitet eine neue Phase der Geschichte der Sowjetjuden ein. Zurzeit lässt sich kaum voraussagen, welche praktischen Folgen das in der Prawda veröffentlichte Manifest der “sowjetjüdischen Antizionisten” und die Bildung eines antizionistischen Ausschusses haben werden. Wahrscheinlich ist es der Auftakt zu unerfreulichen Ereignissen.
Seit Gründung des jüdischen antifaschistischen Komitees während des Zweiten Weltkrieges (die meisten Mitglieder des Komitees fielen dem Stalinschen Terror zum Opfer) ist die Schaffung eines sowjetjüdisehen antizionistischen Komitees die erste staatlich geförderte jüdische Assoziation in der UdSSR. Das von den acht “Hofjuden’ geleitete Komitee wird wohl kaum dazu beitragen, die Lage der Sowjetjuden zu erleichtern, geschweige denn die sowjetjüdische Auswanderung zu fördern. Zweifellos Werden jedoch die Sowjets die Situation propagandistisch ausschlachten. Die westlichen kommunistischen Parteien werden gegen die Gründung eines “jüdischen” antizionistischen Ausschusses voraussichtlich nicht protestieren.
Andropow ist in dieser Beziehung bedeutend schlauer als sein Vorgänger Breschnjew. Ein seit Ende der vierziger Jahre geplantes jiddisches Wörterbuch soll demnächst in Moskau erscheinen. Als Gegenstück zum Hebräischen wird neuerdings in der UdSSR Jiddisch akzentuiert. Auf diese Weise hofft der Kreml, Hinweisen auf das Bestehen einer jüdischen Frage entgegentreten zu können.
Eine Besserung der Lage der Sowjetjuden und neue Auswanderungsmöglichkeiten hängen in erster Linie von dem Stand der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen ab. Wer am Schicksal der Sowjetjuden ernsthaft interessiert ist, müsste somit bereit sein, zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Washington und Moskau beizutragen. Ein neuer kalter Krieg kommt niemandem zugute.

L.K.

[Aufbau Apr. 22, 1983. p.7]

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