Hat der Westen zutreffende Informationen über die Sowjetunion?

Von der Problematik eines aktuellen Forschungsgebiets

Die wissenschaftlichen Mitarbeiter des von Prof. Georgij Arbatow geleiteten Moskauer Amerika-Instituts haben es bedeutend leichter als die Sowjetologen und Kremlinologen der Vereinigten Staaten. Den sowjetischen Amerika-Experten stehen unzensierte US-Tageszeitungen und Zeitschriften sowie Funk- und Fernseh-Informationen in Hülle und Fülle zur Verfügung. Am Moskauer Amerika-Institut sind etwa 70 Fachleute tätig, die verschiedene Gebiete des US-Lebens — aufgrund amerikanischer Originalquellen — erforschen. Das sowjetische AmerikaInstitut gibt eine Monatsschrift heraus, deren Aufsätze nüchtern und sachlich das betreffende Problem erörtern. Im Gegensatz zu den meisten sowjetischen Publikationen enthalten die Schriften des Amerika-Instituts keinerlei Propaganda. Manche Artikel bilden durchaus objektive Beiträge zur sog. Amerika-Kunde. Dem Sowjetbürger fällt es leichter, genauere Informationen über die USA in Erfahrung zu bringen, als wichtige Ereignisse im eigenen Land (wie z.B. die Verhaftung politischer Aktivisten; die Beziehungen zwischen dem Kreml und Osteuropa u.a.m.) zu erkunden. Nur dank der westlichen Rundfunksendungen (Voice of America, Liberty, BBC, Deutsche Welle) sind Millionen Sowjetbürger — ungeachtet der systematischen Störung dieser Sendungen — über die Vorgänge im eigenen Land im Bild.
Wegen Informationsmangels haften den amerikanischen Russland-Forschungen gewisse pseudowissenschaftliche Züge an. Wenn beispielsweise amerikanische Experten vorgeben, sie wüssten Genaueres über einen von ihnen dargestellten “Machtkampf im Kreml”, so tasten sie — trotz Anwendung wissenschaftlicher Terminologie — faktisch im Dunkeln und sind auf ihre eigene Vorstellungskraft angewiesen.
Auf dem amerikanischen Büchermarkt erscheinen jährlich unzahlige Schriften, die “die Geheimnisse des Kremls” zu lüften suchen. Leider sind es Bücher oder Aufsätze, deren Verfassern das Wesen der Sowjetmacht selbst weitgehend unklar ist. Bedeutend besser steht es um Forschungen, die sich mit Einzelproblemen befassen, denen statistische Angaben zugrunde liegen. Als Beispiel für derartige Forschungen lassen sich Themen nennen wie etwa “Wirtschaftsbeziehungen zwischen der UdSSR und Westeuropa”, “Industrielle Modernisierung der sowjetischen mittelasiatischen Republiken” u.a.
In den USA, England und anderen Ländern des Westens gibt es zahlreiche Bücher und Aufsätze von Russland-Experten, die dem Entscheidungsprozess im Kreml gewidmet sind. Nur selten zeigen die Verfasser Sachkenntnis. Beispielsweise kennt sich in solchen Fragen der in der Bundesrepublik lebende Abdurachman Awtarchanow, der vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Apparat des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion tätig war, tatsächlich gut aus. Amerikanische Sowjetologen haben es selbstverständlich schwer, Prognosen anzustellen. Oft werden Ansichten geäussert, die kein tiefes Verständnis des Autors für das wahre Leben in der Sowjetunion erkennen lassen.
Häufig sind amerikanische Korrespondenten, die in der Sowjetunion mehrere Jahre verbringen, über die faktische Lage beträchtlich besser informiert als Universitätsprofessoren, deren Spezialgebiet die UdSSR ist. In diesem Zusammenhang könnte man Hedrick Smith und sein Buch “The Russians”, Robert Kaiser und dessen Buch “Russia”, den ehemaligen Korrespondenten des “Christian Science Monitor”, David Willis, u.a. erwähnen. Hedrick Smiths tiefschürfendes Buch “The Russians” informiert den Leser bedeutend besser als manche gelehrte Aufsätze der Sowjetologen und Kremlinologen.
Zuweilen lässt sich ein unzureichendes Verständnis für Ereignisse von höchster strategischer Bedeutung feststellen. Weder die amerikanische Presse noch die bekanntesten Russland-Experten der Vereinigten Staaten haben bisher die Frage gestellt, wie es denn bei dem sog. “Waldspaziergang” der beiden Genfer Unterhändler (des Amerikaners Nitze und des Russen Kwitzinsky) für den Vertreter der UdSSR überhaupt möglich war, bei den so wichtigen Verhandlungen über Mittelstrecken-Raketen Eigeninitiative zu entwickeln. Jeder, der nur ein wenig mit der Lage in der Sowjetunion vertraut ist, begreift, dass Kwitzinsky — ohne Zustimmung des sowjetischen Politbüros (oder mindestens Andrej Gromykos) — sich nicht erdreistet hätte, eine derartige Initiative eigenmächtig zu ergreifen. Daraus geht aber hervor, dass die Waldspaziergangs-Vorschläge faktisch ein Versuchsballon der Sowjets gewesen waren.
Die russische Exilpresse vertritt fast ausnahmslos die Ansicht, dass die US-Sowjetologen von manchen Sowjetemigranten viel lernen könnten. In einem dieser Tage in der New Yorker russischsprachigen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo” erschienenen Artikel wird dem bekannten Politologen Walter Lacqueur von einem gewissen Alexander Aloits vorgeworfen, er ignoriere die Erfahrungen von Sowjetemigranten. Lacqueur hatte in einem seiner Artikel behauptet, Sowjetemigranten seien meist voreingenommen und liessen sich von Emotionen leiten. Deshalb stellt Lacqueur den Wert der von Sowjetemigranten gelieferten Informationen in Frage. In vielem hat Lacqueur leider recht.
Führen wir hierfür einige Beispiele an. Richard Pipes, Zbigniew Brzezinksi und andere amerikanische Sowjetologen werden von den meisten russischen Exilautoren auch deshalb heftig angegriffen, weil sie behaupten, die Sowjetmacht stütze sich auf die autoritären Traditionen des Zarismus. Der Zusammenhang zwischen der zaristischen Polizeiwillkür und dem sowjetischen Totalitarismus lässt sich schwerlich leugnen. Selbstverständlich besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Ausmass des staatlichen Terrors des Zarenreiches und dem Stalinschen Massenterror.
Ein solcher historischer Kontext liesse sich etwa im Fall Deutschland mit dem kausalen Zusammenhang zwischen dem preussischen Nationalismus und Militarismus einerseits und dem Nazismus andererseits vergleichen. Genau so wie der preussische Militarismus nicht unbedingt in den Nazismus ausarten musste, jedoch — in historischer Sicht — eine derartige Entwicklung (unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen) ermöglichte, musste der staatliche Terror des zaristischen Russlands nicht eo ipso zum Stalinismus führen. Der Mangel an demokratischen Traditionen im Zarenreich förderte jedoch die Entstehung des Stalin-Regimes.
Alexander Solschenitsyn, Wladimir Maximow, Wladimir Bukowsky und andere bekannte russische Exilautoren betrachten den Bolschewismus als eine der “russischen Seele” wesensfremde Erscheinung, die dem Westen (Karl Marx, Friedrich Engels und dem “Viertel-Russen” Lenin) entstamme.
George Kennan, einer der führenden amerikanischen Sowjetologen, wird von den meisten Autoren der russischen Exilpresse unter Beschuss genommen, da er unlängst — mit vollem Recht — behauptet hat, die heutige Sowjetunion lasse sich nicht mit Hitler-Deutschland auf einen Nenner bringen. Der Stalinismus, der Millionen Menschen in KZ-Lagern umkommen liess, ist mit dem Dritten Reich durchaus vergleichbar. Andropows Imperium ist zwar nach wie vor eine totalitäre Diktatur, jedoch gibt es in der heutigen Sowjetunion keine Massendeportationen und Verhaftungen von Millionen Menschen, wie das unter Stalin üblich war. Wer seinen Mund hält und keine Protestaktionen unterstützt (oder gar initiiert), gerät heute in der UdSSR nicht in Gefahr, verhaftet zu werden.
Solschenitsyn spricht vom “kommunistischen Übel” an sich. Jedoch gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Stalin einerseits und Breschnjew und Andropow andererseits.
Die sowjetischen Exil-Antikommunisten versuchen, ihre Thesen zu verfechten, dass der Sowjet-Kommunismus für den Westen eine Todesgefahr sei. Obwohl der Kreml als Supermacht an einer globalen Präsenz interessiert ist und sämtliche Fehleinschätzungen der US-Politiker (z.B. in Lateinamerika) auszunutzen sucht, bedeutet es keineswegs, dass der Kreml die Entfesselung eines dritten Weltkriegs anstrebe. Solschenitsyn und dessen Gesinnungsgenossen sind in ihrem blinden Hass nicht imstande, amerikanische Sowjetologen objektiv zu beraten. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass einzig und allein Konstantin Simes heute ein anerkannter US-Sowjetologe ist. Er ist imstande, die Lage sachkundig und ruhig zu beurteilen.

L.K.

[Aufbau Oct. 7, 1983. p.8]

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