Die phantastischen Abenteur des Alexander Solotarjow

Zweimalige Auswanderung aus der Sowjetunion

Vor mehreren Wochen erhielt die Redaktion des Pariser russischsprachigen Exilblattes “La Pensée Russe” einen Brief des 25jährigen Moskauers Alexander Solotarjow, in welchem der junge Mann von seiner Notlage berichtete. Er sei staatenlos und wolle auswandern. Solotarjows Schreiben hatte die Pariser Zeitung auf Umwegen erreicht. Die Zeitung stand gerade im Begriff, Alexanders Brief in den Druck zu geben, als er plotzlich selbst in der Redaktion auftauchte. Im Verlauf eines Interviews berichtete er über seine wahrlich wunderlichen Abenteuer der letzten Jahre.
Binnen fünf Jahren hatte es Solotarjow zustande gebracht, zweimal — auf legalem Wege — aus der Sowjetunion auszuwandern. 1978 studierte Alexander an einer Moskauer Hochschule. Er litt unter dem Druck der kommunistischen Diktatur und wollte emigrieren. Er bat einen seiner Freunde, dem ein Ausreisevisum gewährt worden war, ihm eine offizielle israelische Einladung zuzusenden. 1979 war das Rekordjahr der jüdischen Auswanderung aus der UdSSR. Alexander erhielt die obligate israelische Einladung und reichte seine Papiere ein. In kürzester Frist wurde ihm ein Ausreisevisum bewilligt. Seine Eltern blieben in Moskau. Sie liessen den Jungen gewähren, wollten aber nicht die UdSSR verlassen.
Ende Februar 1979 erreichte Alexander Solotarjow Wien und gelangte bald danach nach Rom. Schon in Wien verspürt er Heimweh. Er sehnte sich nach seinen Eltern, seinen Freunden und Verwandten.
In Erwartung seiner US-Einwanderungspapiere sollte er eine Zeitlang in Rom verbringen. Doch er fand keine innere Ruhe. Das Heimweh nagte an ihm. Auf illegalem Wege (d.h. ohne französisches Einreisevisum) gelangte er nach Paris. Vier Monate verbrachte er bei Pariser Freunden. Dank seiner guten Französisch- und EnglischKenntnisse verdiente er mit Übersetzungen ein wenig Geld.
Die Heimkehr nach Moskau wurde zu einer fixen Idee. Alexander war nicht mehr imstande, nüchtern zu denken. Er erwog phantastische Wege der Heimkehr, z.B. einen illegalen Grenzübertritt aus Finnland in die UdSSR.
Schliesslich begab er sich von Paris nach Le Havre. Im Hafen machte er einen Handelsdampfer ausfindig, der bald nach Russland abfahren sollte. Die Verladungsarbeiten waren schon beendet, und das Frachtschiff war im Begriff, in See zu stechen. Unbemerkt gelangte Alexander an Bord. Er hatte keine Zeit gehabt, Lebensmittel einzukaufen. Er versteckte sich im Kielraum. Ohne etwas zu essen und zu trinken, verbrachte Alexander hier fünf Tage und fünf Nächte. Im Kielraum var es eiskalt. Solotarjow brach einen Container auf und versteckte sich darin.
Nach Ankunft im Rigaer Hafen begann die Entladung des Schiffes. Alexander sass in seinem Container. Ein Hebekran hob den Güterbehalter, in dem Alexander hockte, empor und liess ihn im Rigaer Hafen nieder. Glücklicherweise befand sich Alexanders Container am äussersten Ende des Lagerplatzes. Nachts kroch der Heimkehrer aus seinem Versteck. So schnell wie möglich machte er sich aus dem Staube. Niemand hatte ihn im Rigaer Hafen bemerkt.
Alexander hatte ein paar Pariser Souvenirs und Kleinigkeiten (Parfüm, Feuerzeug u.a.) Die brachte er bald an den Mann. Das Geld reichte für eine Fahrkarte Riga-Moskau. Im Bahnhofsrestaurant bestellte er sich ein Mittagessen.
In Moskau begab er sich natürlich zu seinen Eltern. Für die war Alexanders Heimkehr eine Art Schock. Die Eltern ahnten, was ihrem Sohn bevorstand.
Alexander traf sich mit seinen alten Freunden. Es verging eine Woche. Die Eltern seiner Freundin drohten, Alexander bei der Polizei anzuzeigen. Erst jetzt begriff Solotarjow den Ernst seiner Lage Er sah sich genötigt, sich beim KGB zu melden und über seine Erlebnisse zu berichten. Der KGB-Offizier hörte sich Alexanders Bericht schweigend an. Dann sagte er barsch: “Weisen Sie Ihre Dokumente vor!” — “Ich habe doch keine Dokumente”, lautete die Antwort. — “Was soll denn das heissen?” fragte der Mann unwirsch. — “Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich auf illegalem Wege heimgekehrt bin”.
Es dauerte eine Weile, bis dem KGB-Mann ein Licht aufging. Als er endlich die Situation begriff, schäumte er vor Wut. Mehrere KGB-Leute betratet das Zimmer. Als sie erfuhren, was da geschehen war, glaubten sie anfangs, Alexander sei von Sinnen.
Schliesslich begann eine stundenlange Vernehmung. Spät am Abend wurde Alexander in das berüchtigte Lefortowo-Gefängnis abtransportiert.
Die Untersuchungshaft dauerte acht Monate. Die KGB-Offiziere und Untersuchungsrichter glaubten Alexander nicht, dass er seines Heimwehs wegen zurückgekehrt sei. Er solle doch eingestehen, dass er im Dienste westlicher Spionagezentren stehe. Da er sich aus freien Stücken zum KGB begeben habe, würde man ihn — falls er seinen Spionageauftrag eingestehe — wieder auf freien Fuss setzen. Alexander durchschaute aber diesen KGB-Trick. Er weigerte sich kategorisch, ein falsches Geständnis abzulegen.
Eine ganze Gruppe Untersuchungsrichter befasste sich mit Solotarjows Fall. Doch Alexander liess sich nicht einschüchtern. Im Juni 1981 fand der Prozess statt. Die Anklage lautete auf illegalen Grenzübertritt. Alexander kam noch glimpflich davon. Er wurde zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Nach der Gerichtssitzung sagte ein Gcfängnisbeamter zu Alexander: “Du hast Glück gehabt. Diese kurze Frist musst du absitzen, weil du die Heimat verlassen hast, nicht aber weil du heimgekehrt bist”.
Alexander Solotarjow wurde in ein Arbeitslager in Mordowien geschickt. Die Häftlinge dieses Lagers waren lauter Ausländer — Westdeutsche, Finnen, Amerikaner, Chinesen, Bulgaren, Polen, Iraner, Nordkoreaner u.a. Insgesamt sassen etwa 120 Häftlinge im Lager.
Die Sträflinge mussten Schemel anfertigen. Gelegentlich erschienen sowjetische Häftlinge aus einem benachbarten Lager. Sie hatten irgendeinen Auftrag zu verrichten. Sie kamen nicht aus dem Staunen heraus. “Ihr habt’s hier ja wirklich gut. Ihr lebt hier wie in einem Kurort”. Für die sowjetischen und ausländischen Sträflinge gab es ein gemeinsames Krankenhaus. Für die sowjetischen Häftlinge war der Aufenthalt im Krankenhaus eine Erholung. Für die Ausländer war es dagegen eine Qual, eine zusätzliche Strafe.
Die Leitung des Ausländerlagers verhält sich zu den westlichen Häftlingen, die mit ihrer Botschaft Kontakte unterhalten, recht schonungsvoll. Von Zeit zu Zeit werden die West-Häftlinge nach Moskau gebracht, wo sie im Butyrka-Gefängnis von ihren diplomatischen Vertretern besucht werden.
Die Nordkoreaner haben panische Angst, in ihre Heimat zurückgeschickt zu werden. Dort werden ehemalige Sowjethäftlinge auf brutalste Weise getötet Des wegen bemühen sie sich darum, nach Ablauf ihrer Haft Frist in der Sowjetunion zu bleiben.
Alexander Solotarjow reifte seelisch im Arbeitslager. Obwohl er sich in einem “privilegierten” Lager für ausländische Häftlinge befand, begriff er endlich den Wert der Freiheit, die er in Frankreich aufgegeben hatte. Nach Verlauf eines Jahres versuchte ihn ein aus Moskau angereister KGB-Mann zu überreden, ein offenes Bekenntnis seiner “Schuld” abzulegen. Dann wurde man ihm vielleicht die Frist kürzen. Alexander war aber standhaft und liess sich nicht in die Falle locken.
Als er seine Frist abgesessen hatte, forderte Alexander Solotarjow, in das Land reisen zu dürfen, woher er gekommen war. Er wurde aber nach Kalinin (früher Königsberg) geschickt. In Moskau hatte ihm der Vorsitzende der Pass- und Visenbehörde gesagt, dass er seine Auswanderungspapiere nur in Kalinin einreichen könne. Dort wollten ihm die Behörden einen sog. Ausländerpass ausstellen. Alexander erfuhr, dass er durch Annahme eines solchen Passes die Stadtgrenzen von Kalinin nicht verlassen dürfe. Kalinin könnte zu seinem Verbannungsort werden. Er weigerte sich also, einen solchen Pass — ohne Ausreisevisum — in Empfang zu nehmen. Die KGB-Leute versuchten, den rebellischen “Heimkehrer” durch Drohungen einzuschüchtern. Man wurde ihn aufs neue verhaften.
Alexander Solotariow hatte vielen neuen Bekannten in Kalinin von seinem kurzfristigen Aufenthalt im Westen erzählt. Der KGB wusste davon. Die Leute von der Staatssicherheit wollten den “Schädling” so schnell wie möglich loswerden. Alexander wurde genötigt, einen Ausländerpass zu akzeptieren. Als offiziell anerkannter “Ausländer” ersuchte Alexander Solotarjow um ein Ausreisevisum, wobei er als Bestimmungsland die Schweiz nannte. Daraufhin wurde ihm erklärt, dass er nur nach Israel ausreisen dürfe. Alexander wanderte nun zum zweiten Mal aus. Heute lebt er in Brüssel. Im Herbst hofft er, sein Studium am belgischen Dolmetscherinstitut aufzunehmen.       L.K.

[Aufbau. Aug. 3, 1984. p.2.]

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