Hat die Zensur geschlafen?

Realistische Berichterstattung aus dem sowjetischen Alltag

Seit mehr als 65 Jahren — solange das Sowjetregime besteht — werden in Russland samtliche Informationen negativer Natur nach Möglichkeit vermieden. Schon über sechs Jahrzehnte lang blickt das Sowjetvolk der ihm verheissenen “lichten Zukunft” entgegen. Nur in seltenen Fällen wird über Naturkatastrophen (Erdbeben, Überschwemmungen u.dgl.) oder über Bahn- und Flugzeugunglücke oder Kriminalfälle in der Presse berichtet.
Plötzlich wird Anfang August d.J. diese althergebrachte “Sowjettradition” verletzt. Die “Nedelja” (Woche), eine wöchentlich erscheinende Beilage der “Iswestija”, brachte am 5. August drei Artikel, die alle bisherigen Kriterien der Sowjetzensur über den Haufen warfen. In einem Bericht über genetische Krankheiten in der Sowjetrepublik Aserbaidschan wird darauf hingewiesen, dass sich gewisse Erbkrankheiten (Uronephrologie) meist in isolierten Berggebieten der Republik beobachten lassen. Das Blatt vermerkt, dass die genannte genetische Krankheit am häufigsten bei Ehen zwischen engsten Blutsverwandten, also in Fällen des Inzests, anzutreffen ist. Hierbei werden die Faktoren genannt, die zur Entstehung solcher Ehen beitragen — äusserst geringe Migration der Bevölkerung, deren Isolierung in Berggebieten sowie Familientraditionen mancher Bergstamme.
Es lässt sich leicht vorstellen, dass es im riesigen Sowjetimperium zahlreiche Fälle gibt, wo die jeweilige Bevölkerung von der Aussenwelt isoliert ist (in Nordkaukasien, in Sibirien u.a.m.). Einerseits zeugt der “Nedelja”-Artikel von der Besorgnis der Sowjets um die Volksgesundheit, andererseits ist er aber völlig untypisch für die Sowjetpresse.
Im selben “Nedelja”-Heft findet der Leser einen “Vorfall im Hotel” betitelten Bericht. Der Artikel befasst sich mit einer Reihe von Diebstählen. Drei Mädchen treffen sich im Kiewer Hotel “Druschba”. Ihnen wird ein gemeinsames Zimmer zugewiesen. Die Begegnung beginnt durchaus freundschaftlich. Anna Kaschinskaja aus Simferopol, Ljudmila Milowa aus Moldawien und Valentina Smirnowa aus Dnjepropetrowsk begrüssen einander aufs herzlichste. Da es aber schon spät ist, beschliessen die Madchen, schlafen zu gehen und sich Kiew am nächsten Tag anzusehen. Am folgenden Morgen jedoch stellt es sich heraus, dass Valentina Smirnowa sich mitsamt dem Geld und den übrigen Habseligkeiten der beiden anderen Mädchen aus dem Staub gemacht hat.
Ein ähnlicher Vorfall wird aus Leningrad berichtet. Eine gewisse Tamara Kotenko wurde mit Sofia Dschemajewa in einem Zimmer des Bahnhofshotels untergebracht. Bald darauf eignete sich Tamara 500 Rubel der Zimmerinsassin an. Von gewissem Interesse ist der Umstand, dass die beiden Diebinnen ihrerseits bestohlen wurden. Tamara Kotenko wurde auf einer Bahnreise von Lwow nach Charkow mit einem “netten jungen Mädchen” bekannt. Sie freundeten sich schnell an, und Tamara lud die Bahngefährtin — eine gewisse Sweta Andritsch — zu sich nach Charkow ein. Das “nette junge Mädchen” verbrachte eine Woche in Tamaras Wohnung. Danach verschwand es plötzlich. Die gastfreundliche Diebin Tamara Kotenko war diesmal selber bestohlen worden (1000 Rubel, sämtliche Dokumente, Schmuck und andere Wertsachen waren verschwunden).
Auch Valentina Smirnowa machte in Kiew Sweta Andritschs Bekanntschaft. Die Diebin Smirnowa wurde von der Rezidivistin Andritsch ihres Hab und Guts beraubt.
Der “Nedelja”-Artikel ist nichts weiter als ein trockener Bericht und mahnt die Leser zur Vorsicht. Das Blatt hielt es nicht für notig, von der “hohen Moral der Sowjetmenschen” zu sprechen. Bisher konnte man in der Sowietpresse Artikel finden, die Kriminalfälle schilderten, sie jedoch als Ausnahmeereignisse betrachteten, die mit der “heldenhaften Gestalt det Sowjetmenschen” nichts gemein hatten.
Die “Nedelja”-Ausgabe vom 5. August d.J. begnügt sich aber nicht mit den beiden obenerwähnten negativen Berichten. Aller guten Dinge sind drei. Der dritte sozialkritische Artikel ist der Krise der Sowjetfamilie gewidmet. Ein Autorenkollektiv, das aus einem Psychologen, einem Pädagogen, einem Volksrichter, einem Polizeichef u.a. besteht, setzt sich mit dem Problem der Folgen von Ehekonflikten auf die Erziehung der Kinder auseinander. Insbesondere wird der Alkoholismus vieler Sowjetväter er wähnt.
Sowjetpsychologen weisen darauf hin, dass für die meisten Väter im Haus drei Dinge kennzeichnend sind — Pantoffeln, Diwan und Fernsehgerät. Du sowjetische Ehefrau, die ja — wie ihr Mann — in Berufsleben steht, trägt die ganze Bürde des Haushalts. Der Mann hilft ihr dabei nicht.
Im Artikel wird betont, dass es infolge der Familienkrisen häufig zu Neurosen und schweren psychischen Erkrankungen der Kinder kommt. Besonders eingehend wird das Problem der Ehescheidung behandelt.
Es nimmt natürlich wunder, dass in gleichen “Nedelja”-Heft drei Artikel erscheinen konnten, deren Inhalt sämtlicher bisherigen Grundsätzen der Sowjetzensur zuwiderläuft. Man hat den Eindruck, dass — infolge eines Machtkampfs in den höchsten Gremien — die Sowjetzensur ihre Wachsamkeit einzubussen beginnt.      L.K.

[Aufbau Sep. 7, 1984. p.20]

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