Ein unbesungener Held
Walter Laqueur und Richard Breitman: “Breaking the Silence”. Verlag: Simon & Schuster, New York. 320 Seiten. $17,95.
Im August 1942 sandte Gerhai Riegner, Vertreter des World Jewish Congress, aus der Schweiz eine Depesche folgenden Inhalts nach London und Washington: “Erhielt alarmierende Nachricht, dass in Führers Hauptquartier Plan diskutiert und erwogen wird, alle Juden in von Deutschland besetzten oder kontrollierten ländern—3.5 bis 4 Millionen—nach Deportierung und Konzentrierung im Osten aufs schnellste zu vernichten. Für diesbezügliche Aktion Anwendung von Giftgas geplant. Wir übermitteln Information mit gewisser Zurückhaltung, da deren Exaktheit nicht bestätigt werden konnte. Informator behauptet, enge Verbindung mit höchsten Nazi-Instanzen zu haben. Seine Berichte scheinen zuverlässig”.
Es dauerte fast vier Jahrzehnte, bis der Name des Mannes, der als erster die ungläubige Welt vor der Möglichkeit eines Holocausts gewarnt hatte, in Erfahrung gebracht werden konnte. Es war Eduard Schulte, ein deutscher Gross industrieller.
Riegner weigerte sich, gegenüber Walter Laqueur, dem Verfasser des 1980 veröffentlichten Buches Terrible Secret, den Namen des Informanten zu nennen. Walter Laqueur, der in jenem Buch die Indifferenz und Passivität amerikanischer und britischer Spitzenpolitiker angesichts der aus Europa übermittelten “Endlösungs”-Pläne analysierte, erwähnte den deutschen Informanten, kannte aber nicht seinen Namen. Laqueur wies damals nur darauf hin, dass es sich um einen deutschen Grossindustriellen, in dessen Betrieb 30.000 Arbeiter angestellt waren, handelte. Laqueur wusste damals auch, dass der Anfangsbuchstabe des Familiennamens des Deutschen “S” war.
Anfang 1984 veröffentlichte der amerikanisch-jüdische Historiker Prof. Monty Penkower The Free World Diplomacy and the Holocaust. In diesem Buch behauptete Penkower auf Grund von Hunderten von Urkundensammlungen in den USA, in England, Israel und der geheimnisvolle Informant Eduard Schulte gewesen sei. Laut Penkowers Forschungsergebnissen begab sich Schulte zweimal in die Schweiz, um die westliche Welt über den von den Nazis geplanten Holocaust zu unterrichten. Penkower gelang es festzustellen, dass Eduard Schulte am 4. Janaur 1891 in Düsseldorf geboren wurde.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass Dr. Schulte (er hatte Jura studiert) bei seiner Schweizer Warnmission sein Leben einsetzte. Seine Fahrten in die Schweiz zeugen von wahrem Heldenmut. Schulte war davon überzeugt, dass seine Informationen Hitlers Absichten zum Scheitern bringen würden. Die Indifferenz der Westmächte hinderte Hitler jedoch nicht daran, seine “Endlösung” zu verwirklichen.
Eduard Schulte ist nunmehr die Zentralfigur eines Buchs von Walter Laqueur und Richard Breit man. Die Autoren vermitteln in Breaking the Silence dem Leser bisher unbekannte Informationen über Schuhes Leben und Wirken. Richard Breitman, der an der American University deutsche Geschichte unterrichtet, wandte sich an Gerhart Riegner mit der Bitte, den Namen des geheimnisvollen Informanten zu nennen. Doch wiederum weigerte sich Riegnei, das Geheimnis zu lüften. Er beruft sich hierbei auf den vor mehr als 40 Jahren geleisteten Eid, niemandem seine Informationsquelle zu verraten.
Breitman durchforschte amerikanische Akten und Geheimdienstquellen sowie die deutsche Industrie betreffenden Publikationen. Er setzte es sich zum Ziel — unabhängig von früheren Versuchen —, den Namen und die Tätigkeit des heldenmütigen Informanten zu ermitteln. Breitman ging bei seinen Forschungen von den beiden von Laqueur in Erfahrung gebrachten Faktoren aus: 1) vom Anfangsbuchstaben des Familiennamens (S) und 2) von der Tatsache, dass der betreffende Grossindustrielle 30.000 Arbeiter beschäftigte. Auf diesem Weg gelang es Breitman, den Namen Eduard Schulte sicherzustellen. Zum Mitautor des Buchs wurde dann Walter Laqueur. Die beiden Verfasser interviewten Schultes Verwandte und Bekannte.
Eduard Schulte war—laut Laqueur und Breitman—seit 1925 Leiter des Breslauer Grossunternehmens Georg von Giesche. Die Verfasser verweisen auf Schultes Konservatismus. Er betrachtete den Versailler Vertrag als Demütigung Deutschlands, hatte keinerlei Interesse für soziale und ethische Fragen und unterstützte auch nicht die Weimarer Republik. Obwohl er einer protestantischen Familie entstammte, besuchte er nicht die Kirche. Gleich anderen Vertretern des deutschen Grossbürgertums war Schulte entschiedener Gegner des Antisemitismus. Er war ferner verheiratet und hatte zwei Söhne. In der Schweiz hatte er eine Geliebte jüdischer Abstammung.
Trotz seiner konservativen Einstellung hasste Schulte den Nationalsozialismus, “in vertraulichen Gesprächen verglich er die Nazis mit Gangstern, die durch ihre Gewaltpolitik im In- und Ausland früher oder später einen Weltbrand entfesseln würden”, im Gegensatz zu vielen konservativen Deutschen, die dem Nazismus keinen Widerstand leisteten, obwohl er ihnen missfiel, war Schulte aktiver Gegner des Hitlerregimes, gehandelte jedoch als Alleingänger.
Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unternahm Schulte öfters Geschäftsreisen nach Zürich. Laut Laqueur und Breitman stand er mit hochgestellten konservativen Hitlergegnern in Berlin in engem Kontakt. Während einer seiner Fahrten in die Schweiz informierte er prominente Zürcher Geschäftsleute und Politiker über die von den Nazis geplante Invasion Polens. Später setzte er seine Vertrauensleute über den Barbarossa-Plan (Überfall auf Russland) in Kenntnis.
Ende 1942 hielt sich Schulte in Zürich auf. Hier übermittelte er einflussreichen jüdischen Kreisen seine Schreckensbotschaft. — Hitlers “Endlösung der Judenfrage”. Der Westen aber war und blieb ungläubig.
Ende 1943 fuhr Schulte wieder in die Schweiz. Diesmal versuchte er, Vertreter westlicher Geheimdienste (darunter Allen Dulles) über die Vernichtungslager in Polen zu unterrichten. Eine in seinem Dienst stehende Sekretärin fand im Büro den Durchschlag eines an Allen Dulles gerichteten Berichts. Sie übergab das kompromittierende Material ihrem Geliebten, einem am deutschen Konsulat in Zürich angestellten SSMann. Nur einem glücklichen Zufall ist es zu verdanken, dass diese Kopie auf dem Schreibtisch eines Berliner Abwehrdienst-Mannes landete, der selbst entschiedener Gegner der Nazis war. Aus Berlin erging an Schulte die Warnung, bis zum Kriegsende in der Schweiz zu verbleiben.
Im Gegensatz zu Penkowers Darstellung der Ereignisse der Nachkriegszeit, denen zufolge Schulte nach 1945 Leiter eines westdeutschen Grossbetriebs war, behaupten Laqueur und Breitman, dass Vertreter der westlichen Besatzungsmächte Schulte misstrauten. Seine Versuche, sich in der deutschen Nachkriegswirtschaft durchzusetzen, schlugen fehl. Nach dem Tod seiner Frau siedelte Schulte nach Zürich über, heiratete seine jüdische Geliebte und verwaltete die Finanzen ihrer Boutique. 1966 starb er.
Einer seiner Erben machte vor einem bundesdeutschen Gericht seine Rechte geltend. Er verlor jedoch den Prozess, da das Gericht befand, dass Eduard Schulte wegen seiner an die Westmächte übermittelten Informationen ein “Verbrechen” begangen hätte.
Erst jetzt zeichnet sich Eduard Schultes menschliche Grösse in deutlicheren Konturen ab. Das ist nicht zuletzt das Verdienst der Autoren dieses Bandes.
L.K.
[Aufbau Aug. 1, 1986. p.10]