Wieder eine Fabrikation sowjetischer Gerichte
Spionageprozess gegen Ilja Suslow mit antisemitischen Akzenten
Ende Juli ist der sowjetische Journalist Ilja Suslow von einem Moskauer Militärtribunal wegen angeblichen Hochverrats zu einer 15jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. In ihrer Ausgabe vom 30. Juli brachte die Moskauer Tageszeitung Trud (Arbeit) einen längeren, unbestreitbar antisemitisch gefärbten Bericht über den Fall. Wer sich in der Berichterstattung sojwetischer Journalisten auskennt, begreift bei der Lektüre des Trud-Artikels ohne weiteres, dass 1) die im Bericht angeführten Tatsachen durchaus widersprüchlich dargestellt sind und 2) dass sowohl der gegen Suslow angestrengte Prozess als auch der entsprechende Pressebericht nicht der Wahrheit, sondern propagandistischen Zwecken dienen sollten.
Ilja Suslow, einem ehemaligen Redakteur des sowjetischen Fernsehprogramms Der Mensch, die Erde und das Weltall und Mitarbeiter der Moskauer Presseagentur Nowosti (Neuigkeiten), wurde zur Last gelegt, für den bundesdeutschen Nachrichtendienst Spionage betrieben zu haben. Dem Trud-Bericht zufolge habe Suslow westdeutschen Agenten “technologische Geheimnisse” preisgegeben.
Trud berichtet, dass die Gerichtssitzungen im Fall Suslow unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Die Zeitung schreibt: “Als Gerichtszeugen traten Gelehrte und Ingenieure auf, deren Vertrauen Suslow — zwecks Sammlung von Geheimdaten — schmählich missbraucht hat. Ilja Suslow hat dem westdeutschen Nachrichtendienst Angaben über die jüngsten Arbeiten sowjetischer Gelehrter übermittelt. Auf Grund dieser Informationen beschlossen westliche Regierungen, welche technischen Mittel und Geräte in die Sowjetunion nicht ausgeführt werden dürfen”.
Trud behauptet ferner, Suslow habe sich mehrfach mit westdeutschen Agenten getroffen, für seine Informationen habe er grössere Geldsummen erhalten. Deshalb sei er, schreibt das Blatt, imstande gewesen, ein Auto zu kaufen (und zwar einen schwarzen “Wolga”).
Obwohl die Moskauer Zeitung hervorhebt, dass die Gelehrten und Ingenieure, die vor Gericht als Zeugen gegen den “Verräter” auftraten, angesichts der Angaben der öffentlichen Anklage konsterniert waren, werden keine Namen genannt — mit Ausnahme eines gewissen Ingenieurs Nikitin, dessen Arbeitsplatz allerdings verschwiegen wird (der Familienname Nikitin ist in Russland ebenso verbreitet, wie etwa Schulz in Deutschland).
Dem Moskauer Pressebericht zufolge habe Ilja Suslow schon 1973, als sein Onkel nach Israel auswanderte, wie das Blatt ausdrücklich vermerkt, unter Verdacht gestanden. Kurz nach Auswanderung des Onkels sei aus einem Panzerschrank ein sowjetischer Dokumentarfilm über den Start eines Erdsatelliten verschwunden. Im Besitz des Schlüssels sei einzig und allein Suslow gewesen. Ungeachtet dieses verdachterregenden “Diebstahls”, der vor etwa zwölf Jahren erfolgte, wurde Suslow die Koroljow-Medaille verliehen (Koroljow war ein bekannter sowjetischer Gelehrter, dessen Forschungen auf dem Gebiet der Raumfahrt von grosser Bedeutung waren).
Von der antisemitischen Berichterstattung zeugen folgende Momente: Trud meldet, dass im Zusammenhang mit dem Fall Suslow auch ein gewisser Chaifez verhaftet worden sei (der Vorname wird nicht erwähnt, doch der Familienname Chaifez klingt für den russischen Leser der Sowjetunion ausgesprochen jüdisch). Ferner berichtet das Blatt, dass Suslows Verbindungsmann ein gewisser Jakow Jakowlewitsch gewesen sei (Jakowlewitsch ist der im Russischen übliche Vatersname; es gibt wohl Juden als auch Russen, die Jakow heissen). Jakow Jakowlewitsch sei — so Trud — unmittelbar danach gestorben, als er erfuhr, dass Suslow verhaftet worden sei.
Es ist kein Zufall, dass die Moskauer Zeitung die Namen der drei “Delinquenten” auf verschiedene Weise in Erwähnung bringt. “Ilja Suslow” kling durchaus russisch. Doch der nach Israel ausgewanderte Onkel weist auf die jüdische Herkunft des Verurteilten hin. Chaifez ist — wie schon gesagt — ein für jeden potentiellen Antisemiten suspekt klingender Name. Im Fall des jäh verstorbenen Mittelsmanns wird der zweifellos russische Familienname einfach ausgelassen. Nur Name und Vatersname werden genannt.
Wer ist der 1973 ausgewanderte Onkel des “Hochverräters”? Der in New York City erscheinenden russischsprachigen Tageszeitung Novoye Russkoye Slovo ist es gelungen, sich mit dem Onkel in Verbindung zu setzen. Es handelt sich um den in Washington, D.C. ansässigen Schriftsteller und Redakteur der russischen Abteilung der Zeitschrift Amerika. Ilja Suslow. Im Gespräch mit der Zeitung erklärte er: “Der in Moskau verurteilte Journalist ist mein Neffe. Er trägt den gleichen Vornamen wie ich, weil er nach mir benannt wurde. In seiner Kindheit erkrankte er an Poliomyelitis. Seitdem ist er verkrüppelt. Meiner Ansicht nach schliesst allein dieser Umstand jegliche Möglichkeit aus, dass sich Ilja mit angeblichen westdeutschen Agenten heimlich und unbemerkt habe treffen können. Ich bin völlig überzeugt, dass dieser Prozess — genauso wie der Prozess gegen Anatolij Schtscharansky 1978 — Ausdruck des sowjetischen Antisemitismus ist. Wenn das nicht der Fall wäre, würde der nach Israel ausgewanderte Onkel, also ich, im Prozess überhaupt keine Erwähnung finden. Die Beschuldigung, Suslow habe einen Geheimfilm gestohlen, ist lächerlich. Es wäre naiv anzunehmen, dass sich der einzige Schlüssel zum Цffnen des Panzerschranks im Besitz eines jüdischen TV-Journalisten befinden könnte. Von der Unschuld meines Neffen bin ich absolut überzeugt”.
Der Washingtoner Ilja Suslow hat beim Vergleich des Prozesses gegen seinen Neffen mit dem Schauprozess Schtscharansky insofern recht, dass es in beiden Fällen starke antisemitische Untertöne gab. Doch zwischen beiden Prozessen gibt es auch einen erheblichen Unterschied. Während der Schtscharansky-Prozess hauptsächlich als Einschüchterungsmanöver gegen Präsident Carters Menschenrechtskampagne gedacht war, ist der Suslow-Prozess innenpolitisch ausgerichtet. Vor seiner Verhaftung war Suslow weder Bürgerrechtler noch Aktivist. Die Berichterstattung der Zeitung Trud will dem Leser suggerieren, dass man Juden in hohen Дmtern nicht vertrauen darf. Auch wenn sie nicht auszuwandern gedenken, sind sie eine Art fünfter Kolonne.
Die Tatsache, dass der Bericht weder in der Prawda noch in der Iswestija erschienen ist, weist darauf hin, dass die Story für den innenpolitischen Konsum bestimmt war. Die Rechnung der Sowjets ist in diesem Fall aufgegangen. Das westliche Ausland hat auf die Verurteilung Suslows fast überhaupt nicht reagiert. Jüdische Massenorganisationen protestieren nicht. Die Welt schweigt. Von bundesdeutscher Seite lassen Erklärungen und genauere Informationen auf sich warten.
L.K.
[Aufbau Aug. 29, 1986. p.8]