Barenboims Beethoven-Deutung: Überwältigend

Beglückender Abend in der Carnegie Hall

Der weltbekannte Pianist und Dirigent, Daniel Barenboim, dem New Yorker Publikum seit langem bestens bekannt, hatte für das Programm seines Solokonzerts, das dieser Tage in der Carnegie Hall stattfand, drei Klaviersonaten Beethovens gewählt. Das grundsätzlich Bedeutsame, das in der Interpretierung der Sonaten durch Barenboim zutage trat, bestand in einer nicht häufig anzutreffenden, völlig unkonventionellen Konzeption der Beethovenschen Kunst und deren ästhetisch-ethischen Werte. Barenboim gehört zu denjenigen erlesenen Beethoven-Interpreten, die bei der Wiedergabe der Tonwerke des großen Komponisten den herkömmlich-akademischen Rahmen sprengen, ihre eigenen Wege gehen und auf diese Weise in die Dramatik von Beethovens Schaffensprozeß einzudringen vermögen.
Jeder Einzelteil der drei dargebotenen Sonaten, deren Tempoverlangsamungen, Übergänge und dynamische Steigerungen resultierten aus einer vom Pianisten durchdachten und durchfühlten ganzheitlichen Erfassung des betreffenden Musikwerks.
Es erübrigt sich, Barenboims phänomenaler musiktechnischer Meisterschaft besonderer Erwähnung zu tun. Hervorzuheben ist, daß Virtuosität für diesen Pianisten nur ein Mittel zur Gestaltung der von ihm Interpretierten Ideen und Gefühle ist.
Erschütternd war in Barenboims Darbietung auch das im Finale erklingende Allegro ma non troppo der A-Dur-Sonate (Op. 110). Die Vehemenz des Musikgeschehens offenbarte geballte innere Kraft, die mit fast orchestraler Klangwirkung des Instruments zur Gestaltung gebracht wurde.
Nicht weniger extreme, jedoch stets aufs strengste gezügelte Dynamik und Expressivität kamen bei der Wiedergabe der Waldstein-Sonate (Op. 53) zum Ausdruck. Besondere beeindruckend war der Übergang von der anfänglich lyrisch gefärbten Reflexion und Besinnlichkeit zum emotionalen Durchbruch im Finale.
Abschließend läßt sich nur vermerken, daß dieser Beethoven-Abend, den Barenboim den New Yorker Musikfreunden darbot, nicht nur eines der ganz großen Ereignisse der Saison war, sondern daß ihm dank seiner Unkonventionalität auch ein besonderer Platz in der Deutung des großen deutschen Komponisten gebührt.
L.K.

[N.Y. Staats-Zeitung u. Herold May 21, 1975. p.5]

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