Verschärfter Antisemitismus in der Sowjetunion

Auswanderungsgesuche führen nach Sibirien oder ins Irrenhaus

Von ROBERT HERZENBERG

Neuerdings machen die Sowjets keinen Hehl daraus, dass es in der UdSSR eine Judenfrage gibt. Noch vor kurzem wurde das kategorisch abgestritten und als imperialistische Verleumdung bezeichnet. Jetzt heisst es, dass am sowjetischen Antisemitismus die Juden selbst schuld seien. Ihre zionistischen Bestrebungen hatten zu antisemitischen Gegenreaktionen geführt. Die sowjet-judischen Aktivisten Felix Kamov-Mandel, Vitalij Rubin und Leonid Sissman wiesen sofort in einem Appell an alle Organisationen in den USA auf die Verlogenheit dieser Behauptung hin. Der sowjetische Antisemitismus sei, so heisst es in dem Appell, die Ursache für den judischen Exodus aus der UdSSR. Ursache und Wirkung würden hier wissentlich von den Sowjetpropagandisten vertauscht.
Bezeichnend für die von der Partei gelenkte antisemitische Welle ist der unlängst in der literarischen Beilage der “Iswestija” veröffentlichte Hetzartikel “Zionszwillinge”. Der Verfasser dieses unverhüllt antisemitischen Machwerks versucht, seine Leser davon zu überzeugen, dass eine weltweite zionistische Verschwörung “das friedliche Leben der Sowjetbürger” gefährde. Auswanderungswillige Sowjetjuden und ihre ”zionistischen Helfershelfer” seien die eigentlichen “Zionszwillinge”.
Kennzeichnend für den Antisemitismus sowjetischer Prägung ist die Parallelwirkung zweier Erscheinungen: Einerseits ist der Sowjetjude der Möglichkeit beraubt, das Kultur- und Traditionsgut seines Volkes zu pflegen (schon langst gibt es in der UdSSR keine jüdischen Schulen, Zeitungen, Theater), andererseits haben es die Sowjetbehörden assimilationswilligen Juden klar vor Augen geführt, dass Russifizierung keineswegs zur faktischen gleichberechtigung führt.
Die wenigen Juden, die heute führende Positionen im öffentlichen Leben der Sowjetunion einnehmen, verheimlichen meist ihre mosaische Abstammung (wie z.B. Georgij Arbatow, Leiter des Amerika-Instituts der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, oder Valentin Sorin, aussenpolitischer Hauptkommentator am Moskauer Fernsehen).
Der sowjetische Antisemitismus neuester Spielart verfolgt ein doppeltes Ziel: erstens die auswanderungswilligen Juden möglichst vielen Gefahren und Erniedrigungen auszusetzen, und zweitens die Zurückbleibenden (weit über zwei Millionen Juden) durch Stimmungsmache und die Verbreitung von Gerüchten als eine Art fünfter Kolonne darzustellen.
Der unlängst in Brüssel abgeschlossene Zweite Weltkongress zur Hilfe an die Sowjetjuden hat unter anderem gegen die Schikanen protestiert, denen sich die jüdischen Sowjetbürger ausgesetzt sehen, die es wagen, um ein Auswanderungsvisum zu ersuchen. Die verminderte Zahl der in den letzten Monaten gewährten Auswanderungsvisen ist auf eine immer intensiver werdende Einschüchterungskampagne gegen potentielle Antragsteller zurückzuführen. Die in der Sowjetunion bei einem Auswanderungsgesuch als obligatorisch geltenden Einladungen von Verwandten aus Israel (oder anderen Ländern) werden jetzt den Adressaten häufig überhaupt nicht zugestellt. Trotz der feierlich unterzeichneten Schlussakte von Helsinki werden immer mehr Anträge auf Auswanderung zwecks Familienzusammenführung zurückgewiesen.
Wie judische Aktivisten aus Moskau berichten, ist das Bestreben der Sowjets darauf gerichtet, die Alija-Bewegung in ein gefügiges Werkzeug der Kreml-Politik zu verwandeln. Die Sowjetregierung furchtet, dass die Kontrolle über die Emigrationsbewegung verlieren könne Gerade deshalb werden die Repressalien des KGB hauptsächlich gegen die jüdischen Aktivisten angewendet. Kontakte mit dem Westen sollen auch durch Abschaltung der Telefone der Auswanderungswilligen eingedämmt werden. Immer häufiger kommt es nach Einreichung der Auswanderungspapiere zu unverhüllten Drohungen. Falls sich junge Leute im dienstpflichtigen Alter nicht einschüchtern lassen, werden sie in die Armee inberufen. Ein erschütterndes Beispiel iowjetischer Inhumanität ist das Schicksal der 17jährigen Maria Temkina. Ihr Vater ist seit drei Jahren in Israel. Maria, die darauf beharrte, dem Vater nach Israel zu folgen, wurde zur “Behandlung” in ein Irrenhaus eingeliefert.
Kennzeichnend für die Verhärtung der sowjetischen Position in der Auswanderungsfrage ist z.B., dass Benjamin Lewitsch, korrespondierendem Mitglied der Akademie der UdSSR, eine Absage zuteil wurde, ungeachtet dessen, dass die sowjetischen Behörden vor einem Jahr versprochen hatten, ihn und seine Frau Ende 1975 emigrieren zu lassen. Der Biologe IIja Gleser wurde nach Ablauf seiner dreijährigen Lagerfrist für zwei weitere Jahre nach Sibirien verbannt. Bisher liess man die “Zionshäftlinge” unmittelbar nach Ablauf ihrer Gefängnisfrist nach Israel auswandern.
Nur energische Proteste seitens der Weltöffentlichkeit können die Sowjetregierung veranlassen, die humanitären Bestimmungen der in Helsinki unterzeichneten Deklaration einzuhalten.

[Aufbau Mar. 12, 1976. p.5]

  SCAN