Planwirtschaft mit ungeplante Folgen

Wirfschaftsnöte in Moskaus Satellitenländern

Von ROBERT HERZENBERG

Kurz vor Ausbruch der durch die Verkündigung von Pieissteigerungen verursachten Unruhen in Polen hat der Warschauer Soziologe Lipkovsky einen offenen Brief an die Partei und Regierung seines Landes gerichtet. Darin schrieb er, dass der komplizierte Wirtschaftsmechanismus ohne eine offene und freie Erörterung der von Tag zu Tag auftauchenden neuen Probleme nicht funktionieren könne. Breiteste Kreise der polnischen Öffentlichkeit, meinte Lipkovsky, müssten zur Lösung der Wirtschaftsfragen herangezogen werden. Sollte das nicht geschehen, so würde die im Volk herrschende Gärung weiter anwachsen und zu unerwünschten Resultaten führen.
Die Beschwichtigungsmassnahmen, die die polnische Regierung unmittelbar nach Ausbruch der Unruhen ergriff, zeugen von der Furcht der politischen Führung, die Kontrolle über den Gang der Ereignisse zu verlieren. Gleich nach dem Beginn der Protestaktion hatte der polnische Parteisekretär Gierek bekanntgegeben, dass die Regierung von einer Steigerung der Preise für die meisten Lebensmittel “vorläufig” absehen werde. Erst in einigen Jahren werden man die bestehenden Preise revidieren. So bleibt zum Beispiel der Preis für Zucker, der um das Doppelte ansteigen sollte, unverändert. Auch Butter, Fette und Gemüse sollen vorläufig nicht teurer werden. Die Fleischpreise sollten ursprünglich um 69 Prozent erhöht werden. Nach Ausbruch der Unruhen gab die Regierung auch hier nach und | begnügte sich mit 35 Prozent.
Die polnische Parteispitze war elastisch genug, im entscheidenden Moment einzulenken und der Bevölkerung eine mehr oder weniger taugliche Kompromisslösung anzubieten. Partei und Regierung waren aber nicht gewillt, Lipkovskys Rat zu folgen und einen freien Meinungsaustausch über die brennenden Fragen des Wirtschaftslebens zuzulassen. Statt dessen versuchte man die Unruhen als Machwerk einiger Böswilliger (“antigesellschaftlicher Elemente”) zu brandmarken. Mehrere “Unruhestifter” wurden vor Gericht gestellt und zu längeren Freiheitsstrafen verurteilt.
In den übrigen sozialistischen Ländern Osteuropas wurden die polnischen Ereignisse einfach totgeschwiegen. Dass die Unruhen in Polen nicht nur die Warschauer Führung, sondern auch den Kreml und die herrschenden Kreise in den anderen osteuropäischen Ländern aufs schwerste beunruhigten, zeigte sich unter anderem als in Ungarn die Fleischpreise “nur” um 40 Prozent erhöht wurden. Vor den polnischen Ereignissen hatten Jan Kadar und seine Kollegen eine 60prozentige Steigerung geplant. Auch Geflügel und Fisch sind seit Anfang Juli dieses Jahres in Ungarn teurer geworden (um 20 Prozent resp. 30 Prozent). Die Zuckerpreise waren schon 1975 erhöht worden.
Zum Unterschied von Polen hat die ungarische Führung vor Einführung der Preisänderungen die Öffentlichkeit über die Ursachen unterrichtet, die sie zu diesen Massnahmen veranlassten. In einer amtlichen Bekanntmachung hiess es, die bevorstehenden Preissteigerungen würden durch eine Erhöhung der Arbeitslöhne, der Altersrenten und der Stipendien kompensiert werden. Ferner wurde darauf hingewiesen, dass die Preissteigerungen durch einen jahrelangen künstlichen Preisstopp verursacht worden seien. Ergänzend erklärte das ungarische Preisamt unlängst, die von der Regierung getroffenen Massnahmen seien unvermeidlich gewesen, um die Preise für Importwaren mit dem Preisniveau der einheimischen Produktion in Einklang zu bringen, wobei zu beachten ist, dass Ungarn darauf angewiesen ist, zahlreiche Rohstoffe aus der Sowjetunion, sowie aus dem Westen einzuführen. Im Lauf der letzten zehn Jahre war die ungarische Regierung imstande, durch ständige Subsidien einen Preisstopp auf dem Gebiete der meisten Lebensmittel aufrecht zu erhalten. Während die staatlichen Betriebe für die aus dem Westen importierten Rohstoffe Preise zahlen, die dem Stand des inter- nationalen Marktes entsprechen, wurden die aus den eingeführten Rohstoffen hergestellten Fertigwaren bisher an die Bevölkerung zu bedeutend niedrigeren Amtspreisen verkauft.
Ungarns Wirtschaftsnöte ergeben sich demzufolge auch daraus, dass die Preise der aus der UdSSR eingeführten Rohstoffe in den letzten zwei Jahren um ein Bedeutendes angestiegen sind. 1975 schraubten die Sowjets beispielsweise die Preise für das von ihnen gelieferte Erdöl um das anderthalbfache hoch.
Die in Ungarn zur Zeit zu beobachtende Entwicklung stellt eine ernste Gefahr für Kadars Wirtschaftsreform dar. Übrigens hat die Regierung dem Volk in dieser Beziehung reinen Wein eingeschenkt. Mit dem Boom sei es nun aus, man müsse die Realitäten akzeptieren.
Obwohl Kadar geschickter vorgegangen ist als sein polnischer Amtskollege Gierek, war es auch in Ungarn den Vertretern der Öffentlichkeit versagt, an einer Diskussion über aktuelle Wirtschaftsfragen teilzunehmen.

[Aufbau Oct. 1, 1976. p.5]

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