Unsicherheit im Kreml
Moskauer Reaktionen auf jüngste Carter-Initiativen
Der auf die Wahrung der Menschenrechte in der ganzen Welt aus gerichtete Kurs der Carter-Administration ist für den Kreml ungewohnt und irritierend. Der lautstarke Protest der sowjetischen Massenmedien gegen eine vermeintliche “Einmischung in die inneren Angelegenheiten der UdSSR” angesichts des Antwortschreibens von Präsident Carter an Andrej Sacharow und des Empfangs des ehemaligen Dissidenten Wladimir Bukowsky im Weissen Haus zeugt von deutlichen Argumentationsnöten des Politbüros der Kommunistischen Partei der UdSSR.
Der führende sowjetische US-Experte Professor Georgij Arbatow (jüdischer Abstammung) hat in einem, dem Moskauer Korrespondenten der “US. News & World Report” gewährten, Interview u.a. erklärt: “Ich glaube wohl kaum, dass Amerikaner es ruhig mit ansehen würden, wenn unsere Journalisten in den USA mit der Symbionesischen Befreiungsarmee oder mit den Weathermen zu kooperieren begännen.”
Somit setzt Arbatow, ein unmittelbarer Berater von Leonid Breschnew, Sacharow und andere sowjetische Dissidenten amerikanischen Terroristen gleich. Dieser unzutreffende Vergleich beweist aufs neue, dass die Moskauer Kommunisten mit ihrem Latein am Ende zu sein scheinen.
Tatsache ist, dass Gus Hall, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei der USA, jedesmal wenn er in der Sowjetunion weilt, ein feierlicher Empfang im Kreml bereitet wird. Breschnew selbst empfängt ihn. Als Angela Davis in den Vereinigten Staaten vor Gericht stand, nahm die sowjetische Presse kein Blatt vor den Mund. Die amerikanische Revolutionärin wurde als Vorkämpferin für eine neue und bessere Zukunft der USA gefeiert.
Kurz nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki erklärte Breschnew, dass die Détente keineswegs als Koexistenz auf ideologischem Gebiet betrachtet werden dürfe. “Wir machen aus unseren Ansichten kein Hehl, sagt Breschnew des öfteren. Vertreter der Moskauer Führung betonen ständig, dass die Sowjetunion auch künftig dem “nationalen Befreiungskampf” in der ganzen Welt politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe zukommen lassen werde.
In Anbetracht dieser unumstrittenen Tatsachen sind die Klagen des Kreml, denen zufolge Carters Unterstützung der sowjetischen Bürgerrechtler eine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten sei, völlig grundlos. Solange Washington Moskau gewähren liess und bei Verletzung der Menschenrechte in der Sowjetunion ein Auge zudrückte, war alles in “bester Ord- nung”.
Warum hat denn Carter nicht das gleiche Recht, seine Meinung zu äussern, wie es für Breschnew als selbstverständlich gilt? Eine indirekte, jedoch deutliche Antwort auf diese Frage erteilt Jurij Andropow, Politbüro-Mitglied und Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes. Andropows Meinung nach sind sämtliche Handlungen der Sowjetführung durch den Klassenkampf zwischen dem kapitalistischen und kommunistischen System bedingt. Dieser Kampf ist angeblich durch die Gesetze der Geschichte prädestiniert. Deshalb seien die Kommunisten “aufs tiefste davon überzeugt, dass ihre Handlungen dem eigentlichen Willen der Menschheitsgeschichte entsprechen”.
Aus dieser “Geschichtsanalyse” geht aber auch hervor, dass Carters Einsatz für Wahrung der Menschenrechte seinen Überzeugungen entspricht, die ihrerseits durch das politische und wirtschaftliche System des Westens und dessen humanistische Traditionen “prädestiniert” sind.
Moskau behauptet ständig, die Dissidenten seien nur ein kleines Häuflein von “Renegaten”. Falls dem so ist, scheint die Unruhe, die sich der sowjetischen Führung bemächtigt hat, wohl kaum begründet zu sein. Die eigentliche Ursache für die Besorgnis des Kreml liegt in der Ansteckungsgefahr der liberalen Ideen der Dissidenten. Nach dem Prager Frühling verspüren Breschnew und seine Kollegen einen panischen Schrecken vor reformistischem Gedankengut.
Es ist kennzeichnend für die Wege und Mittel der sowjetischen Propaganda, dass man es in gegebener Situation für angebracht hält, jüdische Aktivisten als Prügelknaben zu benutzen. Am 4. März veröffentlichte die “Iswestija” einen Brief des ehemaligen Regimekritikers Lipawsky, der die schon jahrelang um ihre Auswanderung nach Israel bemühten Aktivisten Lerner, Slepak und Scharansky, sowie einige schon in Israel befindliche Sowjetemigranten, der Zusammenarbeit mit der CIA bezichtigte.
Die Absurdität dieser Beschuldigung ist offensichtlich. Wenn ein Tatbestand faktisch vorläge, so hätten die sowjetischen Sicherheitsbehörden, die über bessere Informationen als Lipawsky verfügen, sicherlich schon zugegriffen und die “Missetäter” verhaftet.
Laut jüngsten Meldungen westlicher Korrespondenten aus Moskau ist die sowjetische Führung — trotz offizieller Proteste — an konstruktiven Gesprächen mit Cyrus Vance während seiner bevorstehenden Visite in der UdSSR durchaus interessiert.
Die Behandlung sowjetischer Dissidenten durch die Behörden offenbart Unentschlossenheit und Inkonsequenz. Die jüdischen Aktivisten, die der Spionage für die CIA beschuldigt werden, befinden sich bisher auf freiem Fuss. In Moskauer Dissidentenkreisen herrscht die Meinung vor, dass es sich um ein plumpes Einschüchterungsmanöver handelt, dessen Zweck es ist, Kontakte zwischen amerikanischen Korrespondenten und sowjetischen Oppositionellen einzuschränken.
Die sowjetische Presse hat es noch bis vor kurzem vermieden, Präsident Carter persönlich anzugreifen. Meist wurden Umschreibungen benutzt. Der Prawda-Artikel vom 13. März, der zu deutlicheren Ausdrucksmitteln griff und Washington vor ernsten Folgen (Beeinträchtigung der Détente-Politik) warnte, war ein logisch zu erwartender Gegenzug der sowjetischen Führung. Es lässt sich jedoch nicht bezweifeln, dass Moskau nach wie vor an einer Intensivierung der Kontakte mit den USA interessiert ist. Eine Wiederbelebung des Kalten Krieges könnte kaum den Berechnungen des Kreml entsprechen.
R. Herzenberg
[Aufbau Mar. 25, 1977. p.8]