Rebellion gegen bürokratische Willkür

Auswanderung sowjetischer Musikvirtuosen im Steigen begriffen

Die Zahl der sowjetischen Musikvirtuosen, die offen gegen die bürokratische Willkür von Partei und Regierung rebellieren und sich entschliessen, ihre Heimat zu verlassen, ist im Anwachsen begriffen. Der bekannteste sowjetische Musiker, der jetzt im Westen lebt, ist der Cellist und Dirigent Mstislaw Rostropowitsch. Seiner unabhängigen Haltung wegen war er in der UdSSR faktisch der Möglichkeit beraubt, seine Konzerttätigkeit […] Barschai des Moskauer Kammerorchesters, hat vor zwei Jahren um die Auswanderungserlaubnis aus der Heimat zurückkehren zu wollen, wenn dort die Freiheit des Künstlers gewährleistet sei.
Der Dirigent Rudolf Barschai des Moskauer Kammerorchesters hat vor etwa zwei Jahren um Auswanderung ersucht. Erst vor einigen Monaten wurde ihm ein Ausreisevisum nach Israel gewährt. Barschai, einem Musiker von Weltruf, fehlt es nicht an durchaus attraktiven Angeboten. Wahrscheinlich wird er den Posten des Chefdirigenten des Sinfonieorchesters des Süddeutschen Rundfunks übernehmen.
Juri Aronowitsch war Dirigent des Orchesters des Moskauer Rundfunks. 1972 wanderte er nach Israel aus. Als Gastdirigent trat er in den letzten Jahren in den musikalischen Zentren Westeuropas auf. Derzeit ist er Chefdirigent an der Kölner Oper.
Vor einigen Jahren emigrierte der Dirigent Woldemar Nelson aus der UdSSR. Er ist Preisträger mehrerer sowjetischer Musikwettbewerbe. Obwohl er in der Sowjetunion gute berufliche Aussichten hatte — er dirigierte führende Orchester der UdSSR —, fasste er den Entschluss, auszuwandern. Im Westen hat er sich noch nicht durchgesetzt. Seine erste Gastspielreise mit dem Orchester des Norddeutschen Rundfunks verlief durchaus erfolgreich. In den Konzertkritiken einer Reihe westdeutscher Zeitungen wurde Nelsons hervorragendes musikalisches Können hervorgehoben. Aber dieser erste Erfolg hat noch zu keinen praktischen Ergebnissen geführt. Nelson hat zurzeit noch kein Engagement.
Der Cellist David Geringas war in Moskau Rostropowitschs Meisterschüler. Vor etwa einem Jahr ist er zusammen mit seiner Frau — der Pianistin Tatjana Schatz emigriert. Geringas Solokonzerte haben in der deutschen Bundesrepublik Aufsehen erregt. Westdeutsche Musikkritiker vermerkten, dass der russische Cellist als Haydn-Interpret revolutionierend wirke. Im September nahm er am Musikfestival in Ludwigsburg teil. Noch im laufenden Jahre wird David Geringas als Solist unter Leonard Bernsteins Leitung spielen. Gegenwärtig ist er als erster Cellist des Sinfonieorchesters des Norddeutschen Rundfunks tätig. Gleichzeitig ist er Dozent an der Hamburger Musikhochschule.
Dies sind nur einige besonders markante Beispiele. In den letzten Wochen sind noch weitere sowjetische Virtuosen nach Israel, Westeuropa oder nach den USA emigriert. Darunter Preisträger des Tschaikowsky-Wettbewerbs, gefeierte sowjetische Solisten und bekannte Orchestermitglieder. Es handelt sich hierbei um Juden und Nichtjuden. Eines der Hauptmotive, die diese Künstler veranlassen, ist die Rebellion gegen die Gängelei, denen die sowjetischen Virtuosen ständig ausgesetzt sind. Das Verbot von Gastspielreisen, wenn sie genehmigt werden, ihre oft völlig absurde Reglementierung, tragen in bedeutendem Masse zur Erbitterung bei, die früher oder später zur Emigration führt. Manche Fälle sind ihrer Kuriosität wegen kaum glaubhaft.
Als Herbert von Karajan den hervorragenden sowjetischen Geiger Gideon Kremer als Solisten zu einem Konzert nach West-Berlin einlud, wurde Kremer sowjetischerseits zunächst die Reisegenehmigung verweigert. Das Moskauer Kulturministerium wies darauf hin, dass “Kremer noch nicht die nötigen Eigenschaften besitze, um unter der Leitung eines so bedeutenden Dirigenten zu spielen”. Karajan liess sich das nicht gefallen und startete eine energische Protestaktion. Die Sowjets wichen schliesslich diesem Druck und bewilligten dem sowjetjüdisehen Virtuosen zwei Tage vor dessen Auftreten in West-Berlin ein Ausreisevisum.
Bei der Auswanderung spielen auch finanzielle Fragen eine gewisse Rolle. Für ein Gastauftreten im westlichen Ausland erhalten sowjetische Virtuosen 120-160 Dollar — die einzige Ausnahme ist Swjatoslaw Richter, der für ein im Westen gegebenes Konzert etwa 300 Dollar bekommt. Die staatliche Konzertagentur der UdSSR schliesst gewöhnlich Kontrakte mit westlichen Agenturen ab, denen zufolge das Auftreten eines sowjetischen Virtuosen mit 3000-5000 Dollar honoriert wird. Somit bekommt der Staat den Löwenanteil.
Auslandskonzerte sowjetischer Musiker sind für die UdSSR eine wichtige Devisenquelle. Die bürokratische Gängelband-Politik kollidiert jedoch oft mit den finanziellen Interessen des Kremls.
L. K.

[Aufbau Oct. 28, 1977. p.8]

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