Gestrandeten Juden in Wien
Sowjetemigranten, die “heim” wollen
Die schwierige Situation der Sowjetemigranten, die aus mancherlei Gründen Israel verlassen haben und sich jahrelang um ein sowjetisches Wieder-Einreisevisum bemühen, zeugt vor allem von der Willkür der UdSSR-Behörden. Menschen, die in ihr Geburtsland zurückwollen, die Einreise zu verweigern, ist eine nicht mindere Verletzung der elementaren Menschenrechte als die wohlbekannte Praxis der Sowjets, auswanderungswilligen Juden immer neue Schwierigkeiten in den Weg zu legen (die Zahl der sogenannten “Refuseniks”, denen jahraus jahrein eine Absage zuteilwird, reicht schon an die Tausend). In beiden Fällen handelt es sich um eine Missachtung internationaler Konventionen, die von der Sowjetregierung unterzeichnet wurden.
Juden der westlichen Länder fällt es zuweilen schwer, sich von der juristischen und faktischen Lage der um ihre Rückkehr bemühten Sowjetemigranten ein Bild zu machen. Das ist durchaus verständlich. Wenn zum Beispiel ein amerikanischer Jude, der nach Israel ausgewandert ist, aus irgendwelchen Gründen in die USA heimkehren will, hat er keine Schwierigkeiten zu überwinden. Meist ist er zudem Träger einer doppelten Staatsbürgerschaft.
Bei einer Massenauswanderung (seit 1971 sind aus der UdSSR gegen 140,000 Juden emigriert) kommt es naturgemäss zu vereinzelten Fällen, wo es Menschen nicht gelingt, sich an das neue Land und Milieu anzupassen. Die Ursachen, die manche Sowjetemigranten dazu veranlassen, sich nach Wien zu begeben, um sich dort um die sowjetische Rückreiseerlaubnis zu bemühen, sind verschiedener Natur. Es gibt alte Leute, die aus Mangel innerer Elastizität nicht imstande waren, sich in Israel einzuleben. Manche von ihnen haben in der Sowjetunion Freunde und Verwandte. Meist handelt es sich um Menschen, deren Entschluss, die Sowjetunion zu verlassen, weder politisch, noch religiös oder geistig motiviert war. Eine bestimmte Kategorie sowjetischer Auswanderer will “die Welt zu sehen bekommen”, ist aber auf keinerlei Schwierigkeiten vorbereitet.
Die genaue Zahl der in Wien gestrandeten Sowjetjuden ist nicht bekannt. Diesbezügliche statistische Angaben fehlen. Österreichische Beamte vermuten, dass zurzeit in Wien mehrere hundert (300-700) Sowjetjuden leben, die in die UdSSR zurückkehren möchten.
Die sowjetischen Massenmedien sind an einem mehr oder weniger kontinuierlichen Bestände der in Wien befindlichen “Russland-Sehnsüchtigen” durchaus interessiert. Die materielle und seelische Not dieser Menschen wird von sowjetischen TV- und Zeitungsleuten zwecks antizionistischer (mitunter auch antisemitischer) Propaganda ausgeschlachtet. In Moskau wurden im Anschluss an die Wiener Reportagen schon unzählige vom Fernsehen übertragene Pressekonferenzen veranstaltet, in deren Verlauf regimetreue Sowjetjuden den Weitzionismus und den Imperialismus geisselten.
Die Lage der in Wien gestrandeten Sowjetjuden ist kläglich. Die meisten von ihnen sind arbeitslos oder arbeitsunfähig. Nur die wenigsten können Deutsch. Die jüdischen internationalen Wohltätigkeitsorganisationen, die in Wien eine Zweigstelle haben, sind nicht gewillt, den um ihre Rückkehr in die UdSSR Bemühten Beistand zu leisten. Die Aufgabe dieser jüdischen Organisationen ist es ja, den Auswanderern, die sich nach Israel, den USA, Kanada oder in andere westliche Länder begeben, finanzielle oder anderweitige Hilfe zu erweisen, und nicht Rückwanderern. Die einzigen, die diesen Leuten helfen, sind die österreichischen Behörden. Sie gewähren den unerwarteten Gästen Obdach und zahlen ihnen auch geringe Wohlfahrtssummen aus.
In den letzten fünf bis sechs Jahren hatten die Sowjets nur ganz wenigen das Einreisevisum bewilligt. Es lässt sich annehmen, dass der KGB (sowjetischer Sicherheitsdienst) nur die Rückkehr solcher sanktioniert, die im Auftrage der Geheimpolizei “ausgewandert” sind. Falls sich diese Agenten auf den antizionistischen Pressekonferenzen “zufriedenstellend” benehmen, wird ihnen die Einreise gestattet.
L. K.
[Aufbau Nov. 11, 1977. p.5]