Der “Stellvertretungskrieg” in Indochina
Verschärfung des chinesisch-sowjetischen Konflikts
Die bewaffneten Zusammenstösse zwischen Vietnam und Kambodscha beweisen aufs neue, dass eine gemeinsame marxistische und “antiimperialistische” Ideologie nicht imstande ist, militärische Konflikte zwischen kommunistischen Ländern zu verhüten. Die Theorie des sogenannten “Domino-Effekts”, demzufolge der Sieg der Kommunisten in einem Lande die Unabhängigkeit der Nachbarländer bedroht, hat sich in Südostasien nicht bewahrheitet. Im Gegenteil, beide der einander befehdenden marxistischen Staaten werben um die Gunst der nichtkommunistischen ASEAN-Länder (Thailand, Malaysia, Singapur, Indonesien, Philippinen).
Kambodscha, das die diplomatischen Beziehungen zu Vietnam abgebrochen hat, beschuldigt seinen ehemaligen Verbündeten, eine “faschistische Aggression” entfaltet zu haben. Vietnam wird zurzeit von der kambodschanischen Propaganda mit dem ehemaligen Saigoner Regime und sogar mit den “US Imperialisten” verglichen. Phnom Penh hat unlängst die vietnamesischen Soldaten brutaler Mordtaten, Vergewaltigungen, sowie der Vernichtung von Wäldern und Plantagen bezichtigt. Hanoi hat seinerseits erklärt, die kambodschanischen Truppen hätten Zivilpersonen auf bestialische Weise ums Leben gebracht.
In diesem interkommunistischen Konflikt ist Vietnam seinem Gegner weit überlegen. Die Bevölkerung Vietnams zählt 45 Millionen gegenüber annähernd sieben Millionen Kambodschanern. Die vietnamesischen Streitkräfte sind nicht nur bedeutend grösser, sondern auch technisch besser ausgerüstet. Dank Hanois politischer Ausrichtung auf dem Kreml besitzt es modernste Waffen (Peking ist nicht imstande, mit Moskau zu konkurrieren und seinen kambodschanischen Schützling auf gleiche Weise auszustatten). Jüngsten Meldungen zufolge ist es den vietnamesischen Truppen bereits gelungen, etwa ein Drittel der gesamten Streitkräfte Kambodschas ausser Gefecht zu setzen.
Der vietnamesisch-kambodschanische Antagonismus reicht weit in die Vergangenheit zurück. Als im 17. Jahrhundert das Khmer-Imperium unter dem Anprall siamesischer und burmesischer Armeen auseinanderbrach, erweiterte Vietnam sein Territorium auf Kosten Kambodschas. Die Kambodschaner können bis auf den heutigen Tag ihrem östlichen Nachbarn die Eroberung des fruchtbaren Mekong-Deltas nicht vergeben.
Kambodschas kommunistische Regierung bezichtigt jetzt Hanoi des Versuchs, eine indochinesische Union ins Leben zu rufen, um sich damit ein neues Machtinstrument zu schaffen. Diese, Hanoi zugeschriebenen, Hegemonialabsichten werden vielfach von unparteiischen Beobachtern bestätigt.
Die bewaffneten Zusammenstösse zwischen Vietnam und Kambodscha haben zweifellos zu einer Verschärfung des sowjetisch-chinesischen Konflikts beigetragen. Bei jeder Darstellung der jüngsten Ereignisse in Indochina greifen die sowjetischen Massenmedien Peking aufs heftigste an. Nach Ansicht sowjetischer Kommentatoren trägt die Chinesische Volksrepublik Schuld an der Eskalation der militärischen Operationen. Die chinesische Führung steht faktisch vor einem Dilemma: sie möchte ihren Bundesgenossen nicht im Stich lassen, aber andererseits wäre eine unmittelbare Intervention für Peking allzu riskant.
Zbigniew Brzezinski, der Sicherheitsberater Präsident Carters äus serte neulich in einem CBS-Programm die Meinung, der neue Konflikt in Südostasien sei ein “Stellvertretungskrieg” (“Proxy-War ) zwischen der UdSSR und China. Brzezinskis Definition würde von den Sowjets prompt und kategorisch zurückgewiesen.
Wie sich die weiteren Ereignisse in Südostasien auch gestalten mögen, schon jetzt steht fest, dass auch in diesem Raum der Welt die “kommunistische Solidarität” nationalistischen Interessen weichen musste.
L.K.
[Aufbau Jan. 27, 1978. p.6]