Die seltsamen Thesen des “Experten” Dr. Jemeljanow
Gefährliche Entwicklung in der UdSSR: Antisemitismus im Wachsen begriffen
Moskau ist gegenwärtig zu einem Weltzentrum der antisemitischen Propaganda geworden. Antizionistische und sogar unverhüllt antisemitische Schmähschriften werden von den sowjetischen Massenmedien fast täglich verbreitet.
Zu diesen Schlussfolgerungen kam das Präsidium der Brüsseler Konferenz, das unlängst eine zweitägige Tagung abhielt. Bekanntlich vertritt die Brüsseler Konferenz die Interessen der sowjetischen Judenheit in der freien Welt. Das Präsidium der Konferenz analysierte die sich ständig verschlimmernde Lage der Sowjetunion. Der Antisemitismus ist zurzeit zu einem integrierenden Bestandteil der sowjetischen Innenpolitik geworden.
In einer Erklärung des Präsidiums der Brüsseler Konferenz wird hervorgehoben, dass das Ausmass der heute vom Kreml durchgeführten antisemitischen Propaganda sogar die Judenhetze während der düsteren Tage der Stalinzeit übertrifft.
In Massenauflagen erscheinen in der Sowjetunion die antisemitischen Schriften von Iwanow und Begun, Kitschko und Jewsejew. Die sogenannten politischen “Romane” von Schewzos sind zu sowjetischen Bestsellern geworden. Schewzows Gedankengänge erinnern eher an die “Ideen” von Julius Streicher als an die von Marx, Engels und Lenin.
Doch unter den Moskauer Neoantisemiten gebührt der erste Platz dem “Fachmann” für Fragen des Welt Judentums Valerij Jemeljanow. Um seine Tätigkeit richtig einschätzen zu können, muss der Leser vorerst mit der Tätigkeit der weitverzweigten sowjetischen Organisation “Snanije” (Wissen) vertraut gemacht werden. Diese Gesellschaft setzt es sich zum Ziele, populärwissenschaftliche Information unter Millionen von Sowjetbürgern zu verbreiten. Die Gesellschaft “Snanije” hat Zweigstellen in allen grösseren Städten der UdSSR. Die Lektoren dieser unmittelbar der kommunistischen Partei unterstehenden Organisation halten sogar Gastvorträge in entfernten Siedlungen und Dörfern.
Im Rahmen dieser Organisation hat Valcrij Jemeljanow in jüngster Zeit zahllose Vorlesungen über die Judenfrage gehalten. In seiner pathologisch anmutenden antisemitischen Hetze hat er alle bisherigen “Errungenschaften” auf diesem Gebiet in den Schatten gestellt.
So behauptet er z.B., dass Präsident Carter Mitglied einer Freimaurerloge sei, die — laut Jemeljanow — den Namen “Lions International” trägt. Diese Loge unterstehe — so Jemeljanow dem Bne Brit. Aus diesen von Jemeljanow konstruierten Zusammenhängen zieht der sowjetische “Experte” die Folgerung, dass Jimmy Carter nichts weiter als eine Marionette der machtlüsternen amerikanischen Judenheit sei.
Die Hauptthese Jemeljanows, mit der breite Kreise der Sowjetöffentlichkeit bekannt gemacht werden, läuft auf folgendes hinaus: der Weltzionismus (d.h. das Weltjudentum) strebe danach bis zum Jahre 2000 die Macht im globalen Massstab an sich zu reissen. Diese “Prophezeiung” ist somit eine sowjetische Variante der “Weisen von Zion”. Um seine These glaubhafter zu machen, operiert Valerij Jemeljanow mit folgenden “Offenbarungen”: — die “New York Times” sei das inoffizielle Organ des Bne Brit; — 90 Prozent der US—Wirtschaft werde von Juden kontrolliert; — 99 Prozent der US—Massenmedien stünden unter Kontrolle von Juden.
Was die übrige kapitalistische Welt anbetrifft, nennt Jemeljanow folgende Ziffern: 80 Prozent der Wirtschaft und 93 Prozent der Massenmedien seien in jüdischen Händen.
Von Interesse ist die Behauptung des Moskauer Propagandisten, dass nicht nur Leo Trotzky ein zionistischer Agent gewesen sei, sondern dass auch heutzutage weltbekannte Kommunisten diese “schändliche” Funktion erfüllen. Als Beispiel führt Jemeljanow den französischen Kommunistenführer George Marchais an. Eine wahrlich sensationelle “Enthüllung”!
Wie bekannt, ist Aron Vergelis, Redakteur der einzigen in der UdSSR erscheinenden jiddischen Zeitschrift “Sowjetisch Heimland” ein erbitterter Antizionist und ergeht sich in seinen Publikationen in ausführlichen Schilderungen des “glücklichen Lebens” der Sowjetjuden. Vergelis ist sozusagen der prominenteste Hofjude des Breschnew—Regimes. Jemeljanow zweifelt jedoch Vergelis’ Loyalität an. Auch der Chefredaktor von “Sowjetisch Heimland” sei in Wirklichkeit, schreibt Jemeljanow in einem Sonderbericht an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, ein verkappter Agent des Weltzionismus.
In dem vollständigen Text des von der “Jerusalem Post” veröffentlichten Jemeljanow—Berichts ist ein besonders düsterer, unheilvoller Passus enthalten. Jemeljanow behauptet, die Zionisten seien angeblich daran interessiert, dass ein Teil der Sowjetjuden nicht auswandere. Die in der UdSSR verbleibenden Juden seien — nach Jemeljanows Ansicht — bedeutend gefährlicher als die schon ausgewanderten Juden. Sie “bilden eine Fünfte Kolonne, wie es zur Zeit des Zweiten Weltkrieges die Wolgadeutschen und die Krimtataren waren”.
Das Schicksal der Wolgadeutschen und der Krimtataren ist zur Genüge bekannt. Sie wurden auf Stalins Befehl deportiert. Hunderttausende kamen dabei um. Nur Stalins Tod hat die Sowjetjuden vor einer Massendeportierung nach Sibirien bewahrt. Gegenwärtig liegen unbestreitbare Informationen vor, denen zu Folge unmittelbar nach Abschluss des geplanten “Ärzteprozesses” die Sowjetjuden aus sämtlichen Städten ausgesiedelt und verbannt werden sollten.
Jemeljanow, der im Rahmen der unter strengster Parteikontrolle stehenden Organisation zur Verbreitung des “populärwissenschaftlichen” Wissens seine wahnwitzig anmutenden Ideen entwickelt, spielt darauf an, dass früher oder später eine derartige Endlösung der Judenfrage in der UdSSR keineswegs auszuschliessen ist.
Solange die Sowjetunion auf wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit mit den USA und Westeuropa angewiesen ist, ist kaum mit einer so tragischen Entwicklung der Ereignisse zu rechnen. Falls es aber zu einer neuen Runde des Kalten Krieges kommen sollte, könnte sich die Lage der Sowjetjuden katastrophal verschlechtern. L.K.
[Israelitisches Wochenblatt, Jun. 9, 1978. p.15]