Aggression aus Angst?
Beweggründe der Kreml-Aktion in Afghanistan
Als die Sowjetführung im April 1978 sich dazu entschloss, offen und massiv am blutigen Umsturz des Daoud-Regimes mitzuwirken, ahnte sie wohl kaum, zu welchen Komplikationen dieser Gewaltakt führen würde. Die Sowjetstrategen vergassen die Lehren der Geschichte: Im 19. Jahrhundert unternahm Grossbritannien zweimal den Versuch, Afghanistan zu erobern. In beiden Fällen erwiesen sich die anfänglichen militärischen Erfolge der Briten ak trügerisch. Der rebellische Geist, der Fanatismus und Unabhängigkeitsdrang der Afghaner machten es ihnen unmöglich, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen.
Vor dem kommunistischen Umsturz 1978 übten die Sowjets auf Kabul einen entscheidenden aussenpolitischen und militärischen Druck aus. Doch Moskau wollte sich damit nicht begnügen. Die Erfolge des Kremls in Asien und Afrika (in Vietnam, Angola, Äthiopien, Südjemen u.a.) trugen bei der Beurteilung der afghanischen Situation zu einem Mangel an Realitätssinn und Pragmatismus bei. Hinzu kommt der Umstand, dass sich die Sowjetführung in ihren politischen Kontakten mit der Welt des Islams auf unzureichende Erfahrungen stützt. Moskaus Beziehungen zu seinen arabischen Klienten (dem Irak, Syrien, Libyen) beruhen auf zwei entscheidenden Faktoren: 1.) ständige Entfachung des Nahost-Konfliktes; 2.) Waffenlieferungen an die Feinde Israels. In Ägypten ging die Rechnung des Kremls nicht auf. Präsident Sadat erkannte schon 1972, dass es das Endziel der Sowjets sei, Ägypten in einen Satellitenstaat zu verwandeln.
I In Afghanistan sind die Kremlführer nicht imstande, historisch entstandene und objektiv bestehende Konflikte auszunutzen Den Afghanern ist der arabisch-israelische Konflikt mehr oder weniger gleichgültig.
Noor Taraki, Moskaus erster “Statthalter” in Kabul, diente seinen sowjetischen Herren treu und ergeben. Gröbste taktische Fehler, Ignorierung jahrhundertealter Traditionen, Propaganda des Atheismus und Marxismus-Leninismus in einem fast durchweg islamischen Land, eine voreilig durchgeführte Agrarreform, radikale Änderung des Status der Frau in der afghanischen Gesellschaft u.a.m., alles dies sind Faktoren, die sich teilweise auf die dogmatischen Instruktionen der Moskauer “Experten” zurückführen lassen. Sie trugen zu einem schnell anwachsenden Widerstand breiter Bevölkerungsdichten gegen das neue Regime bei. Die moslemischen Guerillas erwiesen sich in militärischer Hinsicht als durchaus erfolgreich. Der Sturz des Taraki-Regimes schien unabwendbar. Vor einigen Monaten kam Taraki während eines von seinem kommunistischen Nebenbuhler Amin inszenierten Umsturzes ums Leben. Amin, den Moskau schon damals beseitigen wollte, bekämpfte die antikommunistischen Guerillas aufs grausamste. Gleichzeitig weigerte er sich, die Role einer sowjetischen Marionette zu spielen. Die Sowjetführung begriff, das sie vor der Alternative stand, entweder in Afghanistan militärisch intervenieren zu müssen oder zu kapitulieren und tausende ihrer Instrukteure abzuberufen.
Der Schreiber dieser Zeilen wies vor einigen Monaten im “Aufbau” auf die fast hoffnungslose Situation hin, in die sich die Sowjets durch ihren Mangel an Flexibilität hineinmanövriert hatten. Die sowjetische Invasion Afghanistans war voraussehbar. In der Tat zogen die Sowjets die militärische Gewaltlösung dem Verzicht auf ihre Präsenz in Afghanistan vor. Über die Motive des sowjetischen Vorgehens wird zurzeit in der westlichen Presse aufs lebhafteste diskutiert. Die meisten politischen Beobachter akzentuieren hierbei die Expansionstendenzen der sowjetischen Aussenpolitik. Zweifellos spielte die strategische Bedeutung Afghanistans bei der Entscheidung des Kremls eine wichtige Role. Eine militärische Präsenz in Afghanistan erleichtert ein eventuelles Vordringen in zwei Richtungen — nach Pakistan und Iran. Bei der sowjetischen Invasion Afghanistans war auch eine weitere Einkreisung Chinas ein mitbestimmender Faktor.
Es wäre jedoch ein Fehlschluss, die sogenannten sowjetischen “Angstkomplexe” ausseracht zu lassen. Bis auf den heutigen Tag sind die sowjetischen Usurpatoren nicht imstande, ihren “Illegitimitätskomplex” zu überwinden. Die Furcht vor einem Verfall der 1917 auf widerrechtlichem Weg ergriffenen Macht beraubt die Sowjets oft der Fähigkeit, die politische Lage objektiv und nüchtern zu analysieren. Genauso wie vor der Invasion der Tschechoslowakei, als der “Prager Frühling” den Kreml in Schrecken versetzte, fürchteten die Sowjets auch im Falle Afghanistans die potentiellen Auswirkungen einer aus Kabul ausgehenden ideologischen Infektion. Während 1968 die tschechischen Vorstellungen eines “Sozialismus mit menschlichem Gesicht” Moskau zur Invasion veranlassten, war bei den Vorgängen in Afghanistan die Furcht vor den Auswirkungen eines Sieges des Islams auf das Sowjetimperium entscheidend. Trotz 62jähriger Sowjetherrschaft fühlen sich die allmächtig scheinenden Mitglieder des Politbüros des ZK der KPdSU recht unsicher. Im Falle eines Sturzes der kommunistischen Regierung in Kabul befürchtete der Kreml, dass es zu Unruhen in den mittelasiatischen Republiken der UdSSR (Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan und Turkmenien) hätte kommen können.
Das sowjetische Expansionsbestreben und die “Angstkomplexe” schliessen einander keineswegs aus. Diese Tendenzen ergänzen sich vielmehr. Sie sind wesentliche Komponenten des Sowjetregimes.
L.K.
[Aufbau Jan. 25, 1980. p.5]