Integrationsprobleme sowjetjüdischer Immigranten in den USA
Als Hunderttausende russischer Juden um die Jahrhundertwende nach Amerika kamen, um den zaristischen Pogromen zu entgehen, hatten sie enorme Schwierigkeiten zu überwinden. Sie waren meist bettelarm. Die amerikanisch-jüdischen Gemeinden konnten ihnen damals nur minimale finanzielle Hilfe gewähren. Die Auswanderer sprachen fast ausschliesslich Jiddisch. Damals waren die amerikansich-jüdischen Organisationen nicht imstande, für die Neuankömmlinge Englischkurse zu veranstalten. Schlecht und recht erlernten sie die fremde Sprache. Sie lebten in jüdischen Stadtvierteln und konnten in den meisten Fällen mit ihrem Jiddisch auskommen. Erst ihre Kinder und Grosskinder, die amerikanische schulen besuchten, meisterten die eng- lische Sprache.
Die jüdischen Einwanderer aus dem zaristischen Russland hatten meistenteils nicht einmal Mittelschulbildung. Sie kamen aus ihrem wolynischen, galizischen, ukrainischen oder bjelorussichen Städtel. Dort waren sie in der Regel als kleine Handwerker und Kaufleute tätig gewesen. In Amerika mussten sie schwer arbeiten (man denke nur an die “Sweatshops”), doch für die amerikanisch-jüdischen Gemeinden, die ihnen zu helfen suchten, war die psychologische Situation nicht allzu kompliziert. Die neuen Emigranten arbeiteten in Fabriken und Werkstätten, deren Besitzer meist Juden waren. Wer es schaffen konnte, eröffnete früher oder später sein eigenes Unternehmen.
Die Urgrossväter der heutigen Sowjeteinwanderer waren religiös motiviert. Sie besuchten regelmässig die Synagoge und waren mit jüdischen Traditionen vertraut. Die Hauptaufgabe bestand in der Anpassung der neuen Einwanderer an die Lebensverhältnisse ihrer Wahlheimat, in ihrer Amerikanisierung (erst die Kinder und Enkelkinder der Juden aus dem zaristischen Russland wurden zu Amerikanern im vollen Sinne des Wortes).
Die fast 90.000 Sowjetjuden, die in den letzten zehn Jahren nach den Vereinigten Staaten und Kanada auswanderten, haben mit ihren Urgrossvätern, die vor 80-100 Jahren nach Amerika kamen, nur eines gemein — die Flucht vor dem Antisemitismus in ihrem Heimatlande. Selbstverständlich unterscheidet sich der Sowjetantisemitismus von dem Judenhass im vorrevolutionären Russland. Die Juden aus dem Zarenreiche retteten sich vor blutigen Pogromen. Viele heutige Sowjetjuden sehen sich genötigt, auszuwandern, weil ihre Kinder in der Heimat keine Zukunftsaussichten mehr haben. Ein inoffizieller Numerus clausus macht sie — trotz der idyllischen Versicherungen der Sowjetpropaganda — zu Bürgern zweiter Klasse.
Die Tatsache, dass immer zahlreichere Sowjetjuden dem Beispiel ihrer Vorfahren folgen und nach Amerika kommen, führt oft zu Missverständnissen seitens der amerikanisch-jüdischen Gemeinden und der in fast jeder US-Stadt existierenden Hilfskomitees für Sowjetjuden. Da fast ausschliesslich orthodoxe jüdische Organisationen, deren Mitglieder (ihre Eltern oder Grosseltern) meist aus Osteuropa stammen, sich der Sowjetjuden angenommen haben, identifizieren sie nur allzu häufig die Neuankömmlinge mit dem Bilde der ihnen so vertrauten “russischen Ahnen”.
Die Sowjetjuden unterscheiden sich aber fast in jeglicher Hinsicht (mit Ausnahme der Auswanderungsmotive) von ihren Vorfahren. Nach jüngsten statistischen Angaben der HIAS sind 24 Proz. der Einwanderer aus der UdSSR Akademiker, 16 Proz. — Ingenieure, 8 Proz. — Techniker, weitere 16 Proz. waren in der Sowjetunion Büroangestellte, Administratoren u.dgl. Oft sind es gerade die Akademiker und die ehemaligen Sowjetadministratoren, die auf dem US-Arbeitsmarkt auf besonders grosse Schwierigkeiten stossen. Mangelnde Englischkenntnisse komplizieren die Situation beträchtlich.
Während die russisch-jüdischen Einwanderer der Jahrhundertwende recht anspruchslos waren und fast jede beliebige Arbeit übernahmen, die ihnen angeboten wurde, bemühen sich heute sowjetjüdische Universitätsabsolventen um eine Beschäftigung, bei deren Ausübung sie die in der UdssR erworbene Qualifikation wenigstens teilweise verwerten können.
In vielen Fällen stellt es sich heraus, dass die Neuankömmlinge über die auf dem amerikanischen Arbeitsmarkt herrschende Situation kaum informiert waren. So kommt es oft zu bitteren Enttäuschungen seitens der Immigranten und zu Verdruss und Ärger der sie betreuenden Amerikaner (gleichartige Erscheinungen lassen sich — im Fall Sowjetjuden — auch in Israel beobachten).
Hinzu kommt die Tatsache, dass 95 Proz. der sowjetjüdischen Einwanderer mit dem Kultur- und Traditionsgut ihres Volkes nicht vertraut sind. In der Sowjetunion besuchten sie die Synagoge nur unmittelbar vor der Auswanderung (auf den Strassen, die zur Synagoge führen, versammeln sich Auswanderungswillige zwecks Austausches jüngster Informationen). Sowjetjuden unterscheiden sich von ihren amerikanischen Glaubensgenossen durch ihre nichtreligiösen Vorstellungen vom Judentum (für die meisten Sowjetjuden ist Judentum ein national-ethnischer Begriff).
Es darf nicht ausseracht gelassen werden, dass Sowjetjuden die Auswanderung — jedenfalls in der Anfangsperiode — einen unvermeidlichen Schock verursacht, der durch die andersgeartete Gesellschaftsordnung und Lebensweise in Russland und Amerika bedingt ist.
Der westliche Individualismus und die bisher völlig unbekannte Freiheit wirken zumeist angsterregend. In der Sowjetunion ist die Wahl des individuellen Lebensweges beschränkt. Nicht das Individuum, sondern der Staat entscheidet. Trotz nonkonformistischen Gedankengutes zahlreicher Schriftsteller und Künstler aus der UdSSR flösst die unbeschränkte westliche Freiheit dem sowjetjüdischen Durchschnittsemigranten eine gewisse Angst ein. Er ist es nicht gewohnt, Entscheidungen selbständig zu treffen und Risiken auf sich zu nehmen.
Manche Sowjetimmigranten fühlen sich in ihrer neuen Heimat vereinsamt. In der Sowjetunion ist Freundschaft bedeutend häufiger anzutreffen als in den Vereinigten Staaten. Ein Sowjetbürger hat meist einige bewährte Freunde, denen er sein Herz ausschütten kann. Freunde helfen einander aus. Dieses Phänomen lässt sich teils auf russische Traditionen, teils auf einen durch den totalitären Staat bedingten psychologischen Schutzmechanismus zurückführen. Freundschaft ist in der UdSSR von grösster psychologischer Bedeutung. Der Mensch braucht individuelle Wärme, um dem Druck der Sowjetbürokratie standhalten zu können. Den Emigranten aus der UdSSR fällt es häufig schwer, sich an die Unverbindlichkeit und oft gleichgültige Höflichkeit zu gewöhnen, auf die er hierzulande stösst.
Der Absorptionsprozess der sowjetjüdischen Einwanderer könnte beschleunigt und reibungsloser gestaltet werden, wenn sich die zahlreichen amerikanischen Fürsorger und Volontäre nicht von veralteten, schablonenartigen Vorstellungen vom russischen Juden der “Grossvaterzeit” leiten liessen und wenn sie über die reale Situation in der Sowjetunion besser informiert wären. N.D.
[Aufbau Jun. 19, 1981. p.12.]