Stagnation und rückläufige Tendenz
Wirtschaftsmisere fast im ganzen Ostblock
Mit nur einer Ausnahme geht es den im COMECON (Wirtschaftsverbund der Ostblock-Länder) zusammengeschlossenen Staaten wirtschaftlich ausgesprochen schlecht. Die Ausnahme bildet die kommunistische Volksrepublik Ungarn, deren dezentralisierte Wirtschaft sich durch Stabilität und Aufwärtsentwicklung auszeichnet, eine Folge der von Ungarns Präsident und Parteichef Janos Kadar schon vor mehreren Jahren durchgeführten tiefgreifenden Strukturreformen. Unter Beibehaltung marktwirtschaftlicher Elemente rückte Ungarn unter Kadars Führung vom sowjetischen Wirtschaftsmodell ab. Die Staats- und Parteiführung verzichtete zwar durchaus nicht darauf, die Grundlinien der Wirtschaftsentwicklung festzulegen und zur Durchführung zu bringen, tat das aber, ohne zu administrativen Zwangsmassnahmen zu greifen. Stattdessen werden wirtschaftlich-finanzielle Hebel in Bewegung gesetzt, die dazu bestimmt sind, die Initiative der Produzenten anzuspornen.
Die ungarische Landwirtschaft hat erstaunliche Erfolge erzielt. Ungarn ist heute sogar imstande, Getreide zu exportieren. Die Fleischproduktion Ungarns nimmt pro Kopf der Bevölkerung den dritten Platz im Weltmasstab ein. Der Ertrag des Getreideanbaus steigt von Jahr zu Jahr.
Das ungarische Wirtschaftsexperiment liefert einen eklatanten Beweis für die Möglichkeit und Notwendigkeit der Einführung marktwirtschaftlicher Elemente in die sozialistische Wirtschaftsordnung. Die “ketzerischen” Wirtschaftsreformen Kadars werden vom Kreml hingenommen. Vorsichtig und ohne jegliche Propagandalärm konnte Kadar gerade diejenigen Reformen durchführen, für die sich Ota Schik während des “Prager Frühlings” vergebens eingesetzt hatte.
In Polen hat die Wirtschaftsstagnation ein derart ernstes Stadium erreicht, dass — nach Ansicht von Finanzexperten — das polnische Sozialprodukt im besten Falle erst in fünf Jahren den Stand erreichen kann, zu dem sich Polen vor drei Jahren (1978) aufgeschwungen hatte.
Die polnische Wirtschaftskrise wird durch die enormen Auslandsschulden (27 Milliarden Dollar) vertieft. Fast sämtliche westlichen Devisen, die dem Land durch Exportgeschäfte zufliessen, werden für die Zahlung von Zinsen für die Auslandsanleihen verausgabt. Somit mangelt es Polen an westlichen Devisen, die dir die Modernisierung der Industrie dringend gebraucht werden. Die westlichen Gläubiger sind zum Teil bereit, den Polen Zahlungsaufschub zu gewähren. Doch von neuen westlichen Krediten kann wohl kaum die Rede sein.
In den letzten zehn Jahren liess sich in Rumänien ein recht schnelles Tempo des Wirtschaftswachstums beobachten. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre stieg das rumänische Sozialprodukt jährlich um 11% an. Ende der siebziger Jahre verlangsamte sich aber die Wirtschaftsentwicklung des Landes. 1980 wuchs das Sozialprodukt des Landes nur um zwei Prozent. Der rumänische Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu, der eine eiserne Diktatur im Lande geschaffen hat, ist — trotz einer gewissen Unabhängigkeit von Moskau — nicht gewillt, die Wirtschaft zu dezentralisieren. Ceausescu fürchtet, liberale Wirtschaftstendenzen könnten die Vormachtstellung der Parteielite schwächen. Auch Rumänien ist dem Westen gegenüber verschuldet, wenn auch in geringerem Mass als Polen.
Im Gegensatz zu Polen und Rumänien hat die Tschechoslowakei nur geringe Auslandsschulden. Dieses einst hochentwickelte Industrieland ist heute auf die Wirtschaftshilfe seitens der UdSSR und anderer osteuropäischer Länder angewiesen. Das Sozialprodukt der Tschechoslowakei ist 1980 nur um drei Prozent angestiegen. Experten nehmen an, dass sich 1981 die Wirtschaftsentwicklung noch weiter verlangsamen wird.
Besser steht es um das Sozialprodukt der DDR und Bulgariens. 1980 wuchs das bulgarische Sozialprodukt um fünf Prozent, das der DDR um vier Prozent. Doch auch in diesen beiden COMECON-Ländern hat sich die Wirtschaftsentwicklung im Vergleich zu den siebziger Jahren verlangsamt.
Die Landwirtschaft der meisten COMECON-Länder befindet sich in einer besonders schwierigen Lage. 1980 verminderte sich ihre Agrarproduktion im Vergleich zu 1979 um drei Prozent. Besonders schlecht ist die Agrarsituation in Polen und Rumänien (für die Sowjets sind die Misserfolge auf landwirtschaftlichem Gebiet schon längst zu einer permanenten Erscheinung geworden). Polen ist nicht imstande, seine Bevölkerung mit den nötigen Nahrungsmitteln zu versorgen. Die Landwirtschaftsproduktion Polens hat 1980 den niedrigsten Stand der letzten zehn Jahre erreicht. Die Kartoffelernte hat sich um 50% verringert. Katastrophal steht es um die Fleischversorgung.
Die ideologische Starrköpfigkeit der Führung in den meisten COMECON-Ländern ist das Haupthindernis auf dem Weg zur Überwindung der wachsenden Wirtschaftsschwierigkeiten. Die Chefideologen der Moskauer Satellitenländer wagten es bisher nicht, die Erfahrungen des ungarischen Wirtschaftsexperiments zu verwerten.
L.K.
[Aufbau Oct. 9, 1981. p.3]