Arbeitslosigkeit verboten
Theorie und Praxis in der Sowjetunion
Laut offiziellen sowjetischen Statistiken gibt es heute in der UdSSR keine Arbeitslosigkeit. Was dabei wohlweislich verschwiegen wird, ist, dass dieser “Idealzustand” dadurch erreicht wird, dass zahllose Betriebe und Behörden teilweise bedeutend mehr Leute anstellen als tatsächlich erforderlich sind. In diesem Zusammenhang fallen auch die verhältnismässig niedrigen Arbeitslöhne und Gehälter in der UdSSR ins Gewicht. Das durchschnittliche Monatseinkommen der sowjetischen Werktätigen beträgt 160 Rubel (etwa 210 Dollar). Der “Mehrwert” (ein von Karl Marx geprägter Begriff, der seiner Theorie der “kapitalistischen Ausbeutung” zugrunde liegt) kommt heute in der UdSSR dem Staat zugute.
Vielfach gibt es in der Sowjetunion eine faktische, jedoch in der offiziellen Statistik nicht verzeichnete Arbeitslosigkeit. So z.B. ist es für Journalisten, Historiker, Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker und sonstige Intellektuelle besonders schwer — oft sogar völlig unmöglich —, in Grosstädten wie Moskau, Leningrad oder Kiew Arbeit zu finden. Wer nicht besonders gute Beziehungen zu einflussreichen Parteigenossen hat, läuft sich vergebens die Hacken ab, ohne dem Ziel näher zu kommen. Nach allen Fehlschlägen finden sich diese Menschen schliesslich bereit, irgend eine Arbeit zu übernehmen, die mit ihrer Berufsausbildung nichts gemein hat. In anderen Fällen sehen sie sich genötigt, in eine entfernte Provinzstadt umzusiedeln in der Hoffnung, dort eine mehr oder weniger passende Beschäftigung finden zu können.
Das sowjetische Gesetz sieht vor, dass alle arbeitsfähigen Bürger auch arbeitspflichtig sind. “Wer nicht arbeitet, isst nicht”, heisst es in der Sowjetverfassung. Nur verheiratete Frauen, deren Männer berufstätig sind, brauchen nicht zu arbeiten (meist aber tun sie es doch, weil das Gehalt des Ehemannes gewöhnlich nicht ausreicht).
Wenn jemand den Sowjetbehörden unliebsam ist und längere Zeit keine Anstellung finden kann, wird er als “Schmarotzer” gebrandmarkt. Die Polizei kann ihn verhaften und vor Gericht stellen. Solche “Parasiten” werden — auf Grund eines Gerichtsurteils — in irgendeinen Provinzort geschickt, wo sie mehrere Jahre lang (entsprechend dem Gerichtsurteil) schwere körperliche Arbeit verrichten müssen. Der heute in den Vereinigten Staaten lebende Dichter Joseph Brodsky wurde noch in der Chruschtschew-Ära als “Schmarotzer” zu einer solchen Art “Arbeitsdienst” gezwungen. Zahlreiche jüdische Refusniks (darunter Mathematiker, Physiker, Ingenieure), die nicht rasch genug eine Anstellung als Lastträger. Heizer u.dgl. finden können, werden auf die gleiche Weise als “Schmarotzer” verhaftet und abgeurteilt.
Wer aber weder Refusenik noch Dissident oder aus sonstigen Gründen ein “verdächtiges Subjekt” ist, findet gewöhnlich irgendeine mehr oder weniger passende, meist unzureichend bezahlte Arbeit.
Zu den “verdächtigen Subjekten” gehören heute in der UdSSR nicht nur Refuseniks und Dissidenten, sondern fast alle jungen jüdischen Arbeitssuchenden. Hunderttausende junge Juden, auch solche, die sich überhaupt nie um eine Auswanderung bemüht haben, sind den Behörden eo ipso “verdächtig”. Nur in den seltensten Fällen gelingt es diesen jungen, teilweise akademisch ausgebildeten Menschen, eine Anstellung zu finden, die ihrem erlernten Beruf entspricht. Ältere Sowjetjuden, die sich der Pensionsgrenze nähern, werden meist auf ihrem Arbeitsplatz geduldet.
Wie findet ein gewöhnlicher, keinem “Verdacht” ausgesetzter Sowjetbürger Arbeit? In den Sowjetzeitungen lassen sich keine Arbeitsinserate finden. Auch die beruflich orientierten Sowjetzeitschriften veröffentlichen keine Arbeitsofferten. In den meisten Fällen, insbesondere wenn es sich um hochqualifizierte Fachleute handelt, wird eine passende Anstellung nur dank persönlicher Kontakte und Beziehungen gefunden.
Bei weitem nicht alle Sowjetbürger haben aber “gute Beziehungen” zu wichtigen Staatsbeamten, Parteibonzen, Direktoren grösserer Betriebe u.dgl. Diese Kategorie gewöhnlicher Sterblicher hat keine andere Wahl, als sich an das in jedem Distriktsowjet (lokale Administrationseinheit in der UdSSR) bestehende Arbeitsamt zu wenden. Diese staatlichen Institutionen verfügen über die nötigen Informationen von Arbeitsvakanzen in ihrem lokalen Distrikt. Es handelt sich hierbei um verhältnismässig schlecht bezahlte Anstellungen. In der Hauptsache können nur Frauen, die nach ihrem Schwangerschaftsurlaub wieder Geld verdienen wollen, oder Altersrentner, die an einem kleinen Nebenverdienst interessiert sind, sowie junge Leute, die nach Absolvierung der Schule in einer Fabrik arbeiten wollen, durch Vermittlung eines solchen Arbeitsamtes eine Anstellung finden.
Ferner machen die Personalabteilungen von Fabriken und andere Institutionen vorhandene Vakanzen an Anschlagtafeln publik.
Im Normalfall können Sowjetbürger ihr Arbeitsfeld selbst wählen. Absolventen von Universitäten und anderen höheren Lehranstalten sind jedoch verpflichtet, drei Jahre lang eine Arbeit zu verrichten, die von einem staatlichen Ausschuss — kurz vor Abschluss der Berufsausbildung — bestimmt wird. Wenn der Absolvent oder dessen Eltern keinen “Schutzpatron” haben, werden die jungen Leute meist in die Provinz (oft in ein Dorf) geschickt. Um dieser vom Staat auferlegten Arbeitspflicht zu entgehen, gibt es eine Reihe effektvoller Tricks. Dazu gehören z.B. fiktive Eheschliessungen mit Ehepartnern, die in Moskau, Leningrad oder anderen Grosstädten leben und arbeiten. Wenn man Glück hat, bekommt man zuweilen ein “freies” Diplom, d.h., man ist bei der Arbeitsuche auf sich selber angewiesen und braucht nicht drei Jahre lang “abzudienen”. Im schlimmsten Fall fährt man in die weitentfernte Provinzstadt und “einigt sich” mit dem Direktor eines Unternehmens (gegen eine entsprechende Geldsumme lässt sich das fast immer machen). Der Direktor schickt dann an das Bildungsministerium der UdSSR ein Telegramm, das besagt, dass sich die Umstände geändert haben und es keine Vakanz mehr gibt. Der Absolvent kann dann auf eigene Faust handeln.
Während der Stalinherrschaft gab es jahrelang staatliche Bestimmungen, denen zufolge Sowjetarbeiter nicht kündigen durften. Sie waren faktisch und rechtlich an ihren Arbeitsplatz gebunden. Wegen einer halbstündigen Verspätung wurden Arbeitern und Angestellten mehrjährige Gefängnisstrafen auferlegt. Glücklicherweise wird in der UdSSR schon jahrelang nicht mehr zu solch barbarischen Massnahmen gegriffen. Heute ist jeder Sowjetbürger berechtigt, sein Arbeitsverhältnis zu lösen, falls er 14 Tage zuvor ein Kündigungsgesuch eingereicht hat. Daraufhin handelt es sich faktisch heute nur darum, eine einigermassen ausreichend bezahlte Anstellung zu finden, die der Ausbildung und dem Beruf des Arbeitsuchenden entspricht.
L.K.
[Aufbau Nov. 20, 1981. p.5]