Stalin — Totengräber des Kommunismus

Valerij Tschalidse war in Moskau einer der aktivsten Bürgerrechtler. Zusammen mit Nobelpreisträger Andrej Sacharow veröffentlichte er Anfang der siebziger Jahre zahlreiche Aufrufe zur Wahrung der Menschenrechte in der UdSSR. Heute lebt und wirkt Tschalidse in New York City. Der von ihm mitbegründete Verlag “Khronika-Press” verlegt Schriften der sowjetischen Regimekritiker, einschliesslich der (in englischer und russischer Sprache) in Russland als Untergrundliteratur erscheinenden Hefte “Chronik der laufenden Ereignisse (Chronicle of Current Events). Diese aus der UdSSR in den Westen geschmuggelten Schriften berichten in detaillierter Form über die Verfolgungen politischer und religiöser Dissidenten, sowie auch über die Schicksale jüdischer und sowjetdeutscher Auswanderungs-Aktivisten.
Vor kurzem hat Valerij Tschalidse ein bemerkenswertes historisches Werk über die Rolle Stalins in der Entwicklung der russischen Revolution veröffentlicht. Dieses in russischer Sprache unter dem Titel “Stalin als Vernichter des Kommunismus” in New York erschienene Werk befasst sich eingehend und überzeugend mit der wahren Natur der heutigen Sowjetmacht. Die Ausführungen des Verfassers widerlegen nicht nur die Illusionen mancher westlicher linker Intellektueller, sondern auch die in rechtsextremen amerikanischen Kreisen vertretenen primitiven Vorstellungen vom Wesen des sowjetischen Kommunismus.
Zu Beginn seines Buches schreibt Tschalidse: “Stalin hat die ganze Welt irregeführt. Fast ausnahmslos glaubt man bis auf den heutigen Tag, dass Stalin einen sozialistischen Staat in Russland geschaffen habe und dass sein Ziel der Aufbau des Kommunismus gewesen sei. Eine Analyse der Tatsachen zeigt jedoch, dass es Stalin war, der die sozialistische Revolution liquidiert und die kommunistische Partei faktisch vernichtet hat. Auf diesem Wege hat Stalin das vorrevolutionäre russische Imperium — in einer bedeutend despotischeren Form — restauriert. Zur Erreichung seiner Ziele war er gezwungen, die marxistische Phraseologie beizubehalten und seine wahren Absichten zu tarnen”.
Laut Tschalidse hat Stalin seinen Plan der faktischen Liquidierung des Marxismus in Russland unmittelbar nach Lenins Tod konzipiert. Er beabsichtigte, in Russland eine Alleinherrschaft zu schaffen, die sich jedoch von der des zaristischen Typs unterscheiden sollte. Als ehemaliger erfahrener Revolutionär war er sich der strukturellen Schwächen des Zarismus voll bewusst. Er strebte nach einer uneingeschränkten, allumfassenden Gewaltherrschaft. Die Erreichung dieses Zieles war — so Tschalidse — unter Beibehaltung der damals existierenden bolschewistischen (kommunistischen) Partei unmöglich. Daraus ergab sich für ihn die Notwendigkeit, die bolschewistische Partei ihres Wesensgehaltes zu berauben und diejenigen zu vernichten, die sich den marxistischen Illusionen hingaben. Dieser Aufgabe widmete sich Stalin konsequent seit seinem Sieg über Trotzky und dessen Anhänger (1925).
Etappen auf dem Weg zur Errichtung der stalinschen Tyrannei waren die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Industrialisierung. Nach der von Tschalidse entwickelten These hat Stalin begriffen, dass das russische Volk nur dann gefügig gemacht werden kann, wenn jeder Bürger dazu gebracht werden kann, sich für ein Stück Brot abzurackern und zu darben. Auf Grund einschlägiger statischer Angaben führt Tschalidse den Nachweis, dass Stalin — seit 1927 — den Hunger im Land bewusst angestrebt und organisiert hat. Anfangs zwang der sowjetische Diktator die Bauern, ihre Saatarbeiten beträchtlich zu vermindern. Späterhin begründete Stalin die Notwendigkeit einer Kollektivierung der Landwirtschaft damit, dass der Ertrag der Privatwirtschaften unzureichend sei. Stalins Kollektivierung führte zu einer Hungersnot, die drei bis vier Millionen Bauern das Leben kostete. Trotz, und während, des Massenhungers exportierte Stalin das enteignete Getreide ins Ausland.
1929 folgte dann die gewaltsam durchgeführte Industrialisierung mit ihrer von Stalin organisierten phantastischen Überhöhung des industriellen Plansolls, dessen reale Erfüllung völlig unmöglich war. Die Parteifunktionäre sahen sich faktisch genötigt, in ihren Rechenschaftsberichten permanent zu lügen. Die Wirtschaftsführer waren Parteigenossen. Ihre fiktiven Produktionsberichte gaben Stalin die Möglichkeit, alte Parteifunktionäre zu “entlarven” und verhaften zu lassen. Im ganzen Lande breiteten sich Hysterie und Panik aus. Stalin hoffte, die Trägheit des russischen Volkes durch kaum erfüllbare Wirtschaftspläne zu überwinden und hierdurch wenigstens eine Mindesterfüllung der Wirtschaftspläne zu gewährleisten.
Schon in den zwanziger Jahren begannen die Repressalien gegen Administratoren und Wirtschaftsführer, die ja alle zur alten Parteigarde gehörten. Das war der Anfang des Grossen Terrors. Stalin schuf auf diese Weise eine allgemeine Angstpsychose, die der Festigung seiner Alleinherrschaft dienen sollte. Die Prozesse der 20er Jahre zeigten, dass das Volk dem Terror keinen Widerstand leistete. Die Opfer der Justizwillkür bekannten in Schauprozessen ihre “Schuld”” an Missetaten und Verbrechen, die sie nie begangen hatten. 1937-1938 kam es dann zu Massenverhaftungen und Hinrichtungen der alten kommunistischen Parteifunktionäre.
Den Platz der liquidierten Revolutionäre nahmen nach 1938 prinzipienlose Karrieristen ein, die Stalin ergeben waren und seine Direktiven blindlings ausführten. Während des Zweiten Weltkrieges hielt es Stalin für zweckmässig, russische nationale Werte zu propagieren und die russisch-orthodoxe Kirche in ein gefügiges Instrument des Staates zu verwandeln.
Tschalidse weist nach, dass Stalin in der Nachkriegszeit einen russisch-chauvinistischen Kurs einschlug. Antisemitismus war und ist Bestandteil dieses Kurses. So schuf Stalin die Grundlagen des sowjetischen Imperiums, wobei kommunistische Propaganda lediglich ein Mittel zur Förderung der imperialen Bestrebungen der UdSSR ist. Stalin war der Totengräber der alten marxistischen Ideale und gleichzeitig der Begründer der sowjetischen Supermacht.            L.K.

[Aufbau Dec. 11, 1981. p.9]

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