Jurij Andropow — Breschnjews Nachfolger?
Am 26. März d.J. wurde im “Aufbau” Jurij Andropow, der damalige Chef des sowjetischen Sicherheitsdienstes (KGB) un ter den Anwärtern auf den Posten des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion an erster Stelle genannt. Hierbei wurde darauf hingewiesen, dass Andropows Aussichten, Breschnjews bald zu erwartende Nachfolge anzutreten, durch eine enge Zusammenarbeit mit dem UdSSR-Verteidigungsminister Ustinow gesteigert werden könnten. Eine neue Troika, der Andropow, Ustinow und eventuell der Mos kauer Parteichef Grischin angehören wür den, scheint durchaus im Bereich des Möglichen zu hegen.
Mittlerweile sind Ereignisse eingetreten, die Andropows Position noch mehr festigen. Ende Mai tagte das Plenum des Zentralkomitees der KPdSU. Ausser einer Erörterung der katastrophal sinkenden Landwirtschafts produktion kam es auch zu mehreren wichtigen Personalveränderungen, die für die Sowjetunion selbst, sowie für deren Beziehungen mit dem Westen, von Bedeutung sein könnten
Andropow wurde zu einem der zehn Sekretäre des Zentralkomitees ernannt Unmittelbar danach wurde er von seiner Tätigkeit als KGB-Chef befreit. Sekretär des Zentralkomitees wurde ferner der 57jährige Wladimir Dolgich (ein wahrer “Jüngling” unter den Kreml-Greisen). Dolgich ist vorläufig Politbüro-Kandidat.
Von Interesse ist auch der Aufstieg des ukrainischen KGB-Chefs Witalij Fedortschuk. Der 63jährige Ukrainer blickt auf eine über vier Jahrzehnte lange Tätigkeit in verschiedenen verantwortlichen Ämtern der sowjetischen Geheimpolizei zurück. Es ist durchaus möglich, dass die Wahl auf Fedortschuk fiel, da er im Kreml über keine Machtposition verfügt. Somit wird sich der neue KGB-Chef am Kampf um Breschnews Nachfolge nicht beteiligen können.
Schon Anfang der fünfziger Jahre nahm Andropow seine Tätigkeit im Verwaltungs apparat des Zentralkomitees der Partei auf. Seit 1962 hat er hohe Ämter im Kreml bekleidet. 1962-1967 war Andropow Sekretär des Zentralkomitees. 1971 wurde er Politbüro-Kandidat. Seit 1973 ist Jurij Andropow vollberechtigtes Mitglied des sowjetischen Politbüros. Den Posten des KGB-Chefs nahm er seit 1967 ein.
Helmut Sonnenfeldt, der in der Kissinger-Ära mehrere Moskau-Reisen für das State Department unternahm und die Kreml-Herren persönlich kennt, hält auf Andropow grosse Stücke. Laut Sonnenfeldts Ansicht ist Andropow der begabteste unter den potentiellen Breschnjew-Nachfolgern. Jurij Andropow spricht englisch (was in den höchsten Parteikreisen selten ist); auch in aussenpolitischen Fragen kennt er sich aus. Westliche Diplomaten behaupten sogar, er habe Interesse für moderne Kunst und Literatur.
Die Annahme mancher amerikanischer Beobachter, dass sich Andropow früher oder später als liberaler entpuppen könnte, ist mit Vorsicht aufzunehmen. Schliesslich war Andropow 1956 Sowjetbotschafter in Budapest — zu einer Zeit, da bei Unterdrückung des Volksaufstandes durch Sowjettruppen etwa 25.000 Ungarn ums Leben kamen.
Andropow ist heute 67 Jahre alt. Er ist der Sohn eines nordkakausischen Eisenbahnar beiters. In seiner Jugend war er Telegrafist und Wolga-Schiffer. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs absolvierte er die Hochschule. Während des Kriegs organisierte er den Widerstandskampf im Rücken des Feindes (in Finnland). Er war auch Politkommissar an der Front. Nach Kriegsende machte Andropow im Aussenministerium Karriere. In verhältnismässig kurzer Zeit wurde ihm der Botschaftertitel verliehen.
Obwohl Andropow im sowjetischen Aussenministerium (und Anfang der fünfziger Jahre im Apparat des ZK) zu Stalins Lebzeiten Aufnahme fand, fallen die entscheidenden Jahre seiner Parteilaufbahn in die Breschnjew-Zeit. Er ist jedenfalls nicht die Kreatur Stalins, wie es bei dem unlängst verschiedenen Partei-Ideologen Michail Suslow der Fall war.
Soweit es sich beurteilen lasst, ist Andropow kein Fanatiker, sondern ein Pragmatiker. Die Tatsache, dass er von seiner KGB Tätigkeit dispensiert worden ist, erhöht seine Chancen, in Breschnjews Fusstapfen zu treten. In der UdSSR ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass der Chef der Geheimpolizei nicht Generalsekretär der KPdSU werden kann.
Viele westliche Kremlinologen waren — angesichts der jüngsten Beschlüsse des Zentralkomitees — höchst verwundert. Die meisten westlichen Beobachter hielten es bisher für so gut wie ausgemacht, dass Konstantin Tschernenko, Breschnjews Intimus, dessen Nachfolger werden würde. Natürlich lässt sich die künftige Machtkonstellation im Kreml nur ahnen. Zurzeit kann nichts als sicher gelten. Dennoch ist der Umstand, dass Tschernenko Breschnjews Favorit ist, noch kein ausreichender Grund dafür, dass — nach Ausscheiden des heutigen Sowjetpräsidenten die Politbüro- und ZK-Mitglieder den Breschnjew-Günstling zu ihrem Generalsekretär wählen werden. Gerade das Gegenteil wäre durchaus denkbar. Der heute 70jährige Tschernenko hat dank Breschnjew in den letzten fünf Jahren eine blitzartige Karriere gemacht. Er ist voll und ganz auf die schützende Hand Breschnjews angewiesen.
Nicht einmal Lenins politisches Testament wurde nach dessen Tod eingehalten. Bekanntlich hatte Lenin vor Stalins Charakter eigenschaften gewarnt; der Kreml hörte aber damals nicht auf Lenins Empfehlungen. Warum sollten die heutigen Kremlherren ihren toten Führern grössere Ehrfurcht erweisen als vor fast 60 Jahren?
L.K.
[Aufbau, Jul. 9, 1982. p.5]