Sowjetbürger “gebildeter” als Amerikaner

Während die Regierung Reagan Milliarden für Rüstungszwecke ausgibt, nimmt sie auf dem Gebiet des amerikanischen Bildungswesens weitgehende Kürzungen vor. Wenn eine Supermacht im Schulwesen rückständig ist, gefährdet das die Sicherheit des Landes nicht weniger als unzureichende Wehrfähigkeit. An vergleichenden graphischen Darstellungen über die Zahl der amerikanischen und sowjetischen interkontinentalen ballistischen Raketen, Mittelstreckenraketen, der atomaren Sprengköpfe u.dgl. hat es in der amerikanischen Presse in den letzten Jahren nie gemangelt, ebensowenig wie an Analysen der militärischen Stärke beider Supermachte. Hierbei ist es jedoch niemandem in den Sinn gekommen, das Bildungswesen in den USA und in der UdSSR miteinander zu vergleichen. Das ist bedauerlich, denn im Atomzeitalter könnte mangelnde Bildung der Bürger für die Sicherheit eines Landes katastrophale Folgen haben. Die 23 Millionen Amerikaner, deren Lese- und Schreibkenntnisse nicht ausreichen, den Anforderungen des täglichen Lebens zu genügen, sind ein ernstzunehmender Faktor.
Wie steht es um das Bildungsniveau der 260 Millionen Sowjetbürger? Obwohl es in den Vereinigten Staaten bedeutend mehr Nobelpreisträger und Gelehrte von Weltruf gibt, ist das Bildungsniveau des sowjetischen Durchschnittsbürgers beträchtlich höher als das des Amerikaners. Dass sich die Politisierung des Erziehungswesens in der UdSSR in vieler Hinsicht negativ auswirkt, liegt auf der Hand. Bekanntlich ist die Sowjetschule ideologisch orientiert. Der Geschichtsunterricht wird im Geist des Marxismus-Leninismus erteilt. Die junge Sowjetgeneration wird von Kindheit an einer “Gehirnwäsche” unterworfen. Trotzdem muss sich die Sowjetführung in der Regel mit einem marxistisch-leninistischen Lippenbekenntnis seitens der Millionen Jugendlicher abfinden. Überaus erfolgreich hingegen ist der Mathematik-, Physik-, Biologie- und Chemieunterricht. Die Absolventen sowjetischer Mittelschulen verfügen über gründliche Kenntnisse auf diesen Gebieten.
In der UdSSR gibt es etwa zwei bis drei Prozent Analphabeten; es handelt sich um alte Leute, meist Frauen. Die Sowjetjugend und die Bevölkerung mittleren Alters sind nicht nur lese- und schreibkundig, sondern auch lesegierig. Wahrscheinlich gibt es in keinem anderen Land der Welt einen solchen Lesehunger wie in der UdSSR. Teilweise ist diese Erscheinung eine Folge der in der Sowjetunion üblichen Zensur. Das allein genügt jedoch nicht, um die russische Lesegier zu erklären. Russische Jugendliche sind eifrige, oft enthusiastische Leser, und waren es lange vor der bolschewistischen Revolution 1917. In Gesprächen mit amerikanischen und britischen Touristen erweist sich häufig, dass junge Sowjetbürger sich bedeutend besser in der amerikanischen und englischen Literatur auskennen als die westlichen Gäste. In der UdSSR haben die meisten jungen Leute die Romane und Erzählungen von Ernest Hemingway, John Steinbeck, William Faulkner, Kurt Vonnegut, John Updike, Sinclair Lewis, J.D. Salinger, Mark Twain, Graham Green, Aldous Huxley, John Galsworthy und vielen anderen bekannten Schriftstellern der westlichen Welt gelesen und sie mit ihren Freunden diskutiert. Wenn aber die Rede auf Saul Bellow oder Tennessee Williams kommt, so erweist es sich, dass diese Schriftsteller den meisten Sowjetbürgern nur dem Namen nach bekannt sind, sie deren Werke jedoch nicht gelesen haben. Erstaunlich ist das nicht, da die Werke von Saul Bellow, Tennessee Williams und einer Reihe anderer amerikanischer Schriftsteller (aus ideologischen Gründen) auf dem sowjetischen Büchermarkt nicht vertreten sind.
Man muss es den Sowjets als Verdienst anrechnen, dass es ihnen gelungen ist, in den mittelasiatischen Republiken (Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisien und Turkmenien) sowie in anderen sogenannten national-autonomen Republiken und Gebieten (wo vor der Oktoberrevolution die Zahl der Analphabeten besonders hoch war) das allgemeine Bildungsniveau zu heben. Diese Erfolge gehen allerdings meist auf Kosten der eigenständigen Kultur der verschiedenen in der UdSSR niedergelassenen Völker. In der Sowjetunion ist der Besuch einer sechsjährigen Grundschule obligatorisch. Die Mittelschule hat vier Klassen (in einzelnen Gebieten der UdSSR ist auch der Besuch der Mittelschule obligatorisch) Ausserdem gibt es Fach- und Berufsschulen. Die sogenannten PTU-Schulen (PTU ist Abkürzung für “Betriebstechnische Lehranstalt”) werden von Betrieben und Fabriken geleitet. Die Absolventen dieser Berufsschulen werden nicht nur in technischen Fächern, sondern auch in allgemein bildenden Schulfächern unterrichtet. Das sowjetische Technikum lasst sich mit einem amerikansichen Junior College vergleichen. Das Studium dauert vier Jahre, für Mittelschulabsolventen 18 Monate weniger. Technische Lehranstalten graduieren Krankenschwestern, Arztgehilfen, Geburtshelfer, Automechaniker, Radiotechniker u.a.m.
Die höheren Lehranstalten in der UdSSR bestehen aus Instituten und Universitäten. Institute lassen sich etwa mit amerikanischen Colleges vergleichen. Der wissenschaftliche Grad des Absolventen eines Instituts (ein meist vierjähriger Kursus) ist das Äquivalent eines amerikanischen Bachelor of Arts. Die Studiendauer an Sowjetuniversitäten beträgt fünf Jahre (zehn Semester). Der wissenschaftliche Grad des Absolventen einer sowjetischen Universität gleicht meist einem M.A. oder M.S. Aufnahmeprüfungen an Universitäten sowjetischer Grosstädte werden von Jahr zu Jahr schwerer. Für Jugendliche aus der Provinz gibt es an Moskauer, Leningrader oder Kiewer Universitäten ein Quotensystem. Sowjetjuden werden jetzt zum Universitätsstudium praktisch nicht zugelassen.
Auch an den Provinz-Instituten ist es in den letzten Jahren für jüdische Bewerber bedeutend schwieriger geworden, die Aufnahmeprüfungen zu bestehen. Da es sich um mündliche Prüfungen handelt, ist einer (von höchsten Parteiinstanzen sanktionierten) Willkür Tür und Tor geöffnet Beachtliche Erfolge haben die Sowjets auf dem Gebiet des Fernunterrichts erzielt. Hunderttausende Studenten absolvieren auf diese Weise verschiedene Institute. Sie müssen monatliche Kontrollarbeiten vorlegen und besuchen zweimal im Jahr (meist im Januar und im Juni-Juli) ihr Institut, wo sie Vorlesungen hören und an Seminaren teilnehmen.
Amerikanische Fachleute könnten bestimmt von den sowjetischen Errungenschaften auf dem Gebiet des Schulwesens und der Bekämpfung des Analphabetentums lernen; mit entsprechenden Abänderungen könnten viele der Methoden in den USA wahrscheinlich nutzbringende Anwendung finden.

L.K.

[Aufbau Sep. 3, 1982. p.6]

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