Islam in der Sowjetunion

Nach 65jähriger Sowjetherrschaft, deren wesentliche Bestandteile kommunistische Ideologie und Atheismus sind, ist der Islam bis auf den heutigen Tag imstande, auf die Bevölkerung Mittelasiens entscheidenden Einfluss auszuüben. Im Sommer versammeln sich jeden Freitag etwa 4000 Gläubige an der Taschkenter Moschee Scheich-Sainutdin, in der Sowjetrepublik Usbekistan, zum Gottesdienst. An dem in der Nähe der usbekischen Stadt Samarkand befindlichen Grabdenkmal eines mohammedanischen Theologen des 9. Jahrhunderts rühmt ein Imam — in Anwesenheit zahlreicher Gläubiger — den freiwilligen Einsatz von Steinmetzen zur Wiederstellung der in Verfall geratenen Denkstätte. In der jahrhundertealten Medresse Bucharas studieren zurzeit 75 junge Sowjet-Mohammedaner Sie bilden den Nachwuchs der heutigen islamischen Geistlichkeit der Sowjetrepubliken Mittelasiens.
Dem offiziellen sowjetischen Standpunkt zufolge ist der Islam — wie jegliche andere Religion — Ausdruck einer reaktionären Denkart, die sich auf den Aufbau des Kommunismus hemmend auswirke. Die Sowjetischen Parteifunktionäre Mittelasiens bringen ihre Zuversicht zum Ausdruck, dass die im Lande geförderte Allgemeinbildung zur Schwächung des Islams führen würde. Die atheistische Propaganda hat sich in Mittelasien besonders in den letzten Jahren — in unmittelbarem Zusammenhang mit den Ereignissen in Afghanistan — beträchtlich verschärft. Und dennoch sehen sich die Sowjets genötigt, dem Islam bedeutend grössere Zugeständnisse zu machen als anderen Religionsgemeinschaften (insbesondere dem Judentum). Dieser “Liberalismus” den Sowjet-Mohammedanern gegenüber lässt sich mit aussenpolitischen Erwägungen des Kremls erklären. Bei Durchführung ihrer globalen Politik muss die Sowjetführung — wohl oder übel — mit dem Islam als der dominierenden Religion der arabischen Welt und anderer Länder der Dritten Welt mit vorwiegend mohammedanischer Bevölkerung rechnen.
Im Gegensatz zum offiziellen sowjetischen Standpunkt, dem zufolge der Islam in der UdSSR keine Zukunft hat, sind die geistlichen Führer der Mohammedaner Usbekistans durchaus optimistisch gestimmt. Sie sind — nach Angaben der in Riyadh erscheinenden “Saudi Gazette” — davon überzeugt, dass der Islam in den sowjetischen Republiken Mittelasiens eine wahre Renaissance erleben werde.
Eine der vier in der Sowjetunion existierenden Abteilungen für islamische Angelegenheiten wird vom Mufti Mittelasiens und Kasachstans geleitet. Dank der Tätigkeit dieser 1943 in Taschkent begründeten Abteilung hat sich die Lage der Gläubigen erheblich gebessert.
1946 genehmigte die Sowjetregierung die Wiedereröffnung der Medresse Mir-Arab in Buchara (Mitte der zwanziger Jahre war die Tätigkeit dieser geistlichen Lehrstätte untersagt worden). 1971 wurde sogar eine zweite islamisihe Hochschule — und zwar in Taschkent — eröffnet Die erfolgreichen Absolventen der Buchara-Medresse durften in Taschkent ihre Lehrtätigkeit aufnehmen. Zurzeit werden an der Taschkenter Medresse etwa 20 junge Geistliche herangebildet.
Laut Angaben der staatlich sanktionierten Abteilung für islamische Angelegenheiten in Taschkent sind in den letzten 40 Jahren in der UdSSR vier Ausgaben des Korans erschienen (eine fünfte Ausgabe befindet sich gegenwärtig in Druck). 1974 wurde eine Sammlung der Ausspruche des Propheten Mohammed veröffentlicht. Diese und andere religiöse Werke sind jedoch in den sowjetischen staatlichen Buchhandlungen nicht erhältlich. Die Gläubigen können solche Werke nur durch die Taschkenter Abteilung für islamische Angelegenheiten beziehen.
Nach vorliegenden Angaben werden in den vier sowjetischen Republiken Mittelasiens (Usbekistan, Turkmenien, Tadschikistan, Kirgisien) und in Kasachstan Gottesdienste in 145 grösseren Moscheen und in etwa 1000 kleineren Gemeinde-Moscheen abgehalten.
In manchen Moscheen versammeln sich an Werktagen nur wenige Leute. Am Freitag aber — berichten die Imams — “wohnen dem Gottesdienst zahlreiche Gläubige bei”. In den Moscheen der Sowjetrepubliken Mittelasiens werden zu Tausenden rituelle Trauungen vorgenommen.
In Mittelasien sind die sozialen und kulturellen Traditionen aufs engste mit den gottesdienstlichen Bräuchen verbunden. Aus diesem Grund lässt sich die Zahl der islamischen Gläubigen in der UdSSR nur schwer ermitteln. Die Grenze zwischen Wahrung der Tradition und Einhaltung der kultischen Bräuche schwankt und weist zahlreiche Übergänge auf. Die Vertreter der Taschkenter Abteilung für islamische Angelegenheiten behaupten — unter Hinweis auf “ausländische Quellen” —, dass es in der UdSSR etwa 40 Millionen Mohammedaner gebe.

*      *      *

       Die Imams vollziehen nicht nur rituelle Ehetrauungen und Bestattungen. Sie werden auch häufig zu Familienfestlichkeiten eingeladen (anlässlich der Geburt, Beschneidung u.dgl.). Oft handelt es sich hierbei um Eltern, die dem Gottesdienst in den Moscheen nur selten beiwohnen.
Dem Mufti Mittelasiens und Kasachstans zufolge begeben sich alljährlich 20-25 sowjetische Mohammedaner auf Wallfahrten nach Mekka. Meist erfolgen diese Wallfahrten unter Leitung des Muftis. Da Moskau und Riyadh keine diplomatischen Beziehungen miteinander unterhalten, müssen sich die sowjetischen Pilgrime vorerst in andere arabische Länder begeben, um sich dort um Bewilligung von Einreisevisen nach Saudiarabien zu bemühen. Laut Berichten des Muftis nimmt die Gewährung von Einreisevisen oft längere Zeit in Anspruch.
Die sowjetische atheistische Propaganda bekämpft nicht nur Aberglauben und Rückständigkeit, sondern auch uralte religiöse Vorstellungen des Islams. Im atheistischen Museum Bucharas gibt es mehrere Plakate und Karikaturen, die gegen den Fastenmonat Ramadan gerichtet sind. “Die islamischen Feiertage fördern die religiösen Vorstellungen der Volksmassen und lenken die Werktätigen von ihrem Hauptziel ab — dem Aufbau des Kommunismus”, heisst es auf zahlreichen Plakaten.
Viele junge Mohammedaner in den Sowjetrepubliken Mittelasiens weichen nicht vom väterlichen geistlichen Erbe ab. Sie erziehen auch ihre Kinder in religiösem Geist. Laut einem Bericht des Direktors der Buchara-Medresse gibt es unter den Studenten dieser Lehranstalt auch Vertreter der sowjetischen Arbeiterklasse und der Kolchosbauern.
Die ältere Generation der sowjetischen Mohammedaner hält grosse Stucke auf den Nachwuchs, insbesondere auf die Absolventen der Medresse. Im Gegensatz zu der offiziellen Sowjetpropaganda meinen die Gläubigen Mittelasiens, dass die in der UdSSR verwirklichte allgemeine Schulbildung dazu beitragen werde, dem Islam zu immer grösseren Siegen zu verhelfen. “Ein gebildeter Mohammedaner ist imstande, Religion von Aberglauben zu unterscheiden. Nach Überwindung dieser von unserer Lehre abweichenden Irrvorstellungen wird der Islam eine grössere Anziehungskraft auf unsere sowjetischen Mitbürger ausüben”, meint der Imam von Taschkent.
Marxismus und Islam kämpfen nach wie vor um Seele und Geist des sowjetischen Mittelasiens.

L.K.

[Aufbau Nov. 26, 1982. p.6]

INDEX   SCAN