Zwischenbilanz der Détente

Auch für Moskau ein zweischneidiges Schwert

Von ROBERT HERZENBERG

Zur Zeit kann das jüngste Kapitel der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen als abgeschlossen betrachtet werden. Die Détente, deren Baumeister Henry Kissinger war, kommt durch den Amtsantritt der Carter-Administration wohl kaum zum endgültigen Abschluss, wird aber voraussichtlich neue Formen annehmen.
Der Position Washingtons in Fragen der weiteren Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen waren im vergangenen Wahljahr zahlreiche Reden und Pressebeiträge gewidmet. Bedeutend geringere Aufmerksamkeit galt bisher der Analyse der sowjetischen Absichten bei Durchführung des Entspannungskurses. Eine objektive Zwischenbilanz der Détente unter Berücksichtigung der wahren Intentionen Moskaus ist für den westlichen Beobachter unerlässlich, falls er darum bemüht ist, die inneren Zusammenhänge der komplizierten Ost-West-Beziehungen zu erfassen.
Der kalte Krieg, der die Folge der Stalinschen Expansionspolitik war, hatte zu einer diplomatischen Isolierung der UdSSR geführt. Der unverhüllt aggressive Kurs Moskaus sicherte den USA in den Nachkriegsjahren die führende Rolle in der Weltpolitik.
Zu Lebzeiten des sowjetischen Diktators liess sich die Sowjetunion in der Innen- und Aussenpolitik von dem Prinzip Lenins und Stalins leiten: “Wer nicht auf unserer Seite steht, ist gegen uns.” Die Nachfolger Stalins begriffen, dass es im Interesse der UdSSR liegt, eine flexiblere Politik zu betreiben, die auf dem Grundsatz beruht, “Wer nicht gegen uns ist, ist für uns.”
Der Entspannungspolitik, die von Khruschtschow in Angriff genommen, jedoch erst von Breschnew in vollem Mass ausgeführt wurde, lag folgende nüchterne Berechnung zugrunde.
Kino Politik der “friedlichen Koexistenz” kann wesentlich dazu beitragen, das wirtschaftliche Potential der UdSSR zu stärken. Nur dank westlicher technologischer und ökonomischer Hilfe ist es möglich, einen grösseren Anteil des sowjetischen Sozialprodukts der Rüstung zu widmen. Auf diese Weise wird eine militärisch-strategische Parität mit den USA (und eine spätere Überlegenheit der Sowjetunion) gewährleistet.
Ende der sechziger Jahre standen Breschnew und seine Kollegen vor der Alternative: Durchführung von Wirtschaftsreformen, die eine weitgehende Dezentralisierung des kommunistischen bürokratischen Apparats zur Voraussetzung hatten, oder Orientierung auf Wirtschaftshilfe aus dem westlichen Ausland.
Nach dem Prager Frühling kam eine Wirtschaftsreform schon nicht mehr in Frage. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei hatten dem Kreml den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsreformen und einer politischen Liberalisierung, die den Keim der Bedrohung der kommunistischen Diktatur in sich birgt, klar vor Augen geführt. Somit verblieb nur die Möglichkeit, die nötige Hilfe vom Westen zu erlangen. Dieser Beschluss der sowjetischen Führung ist gleichzeitig als Fiasko der bolschewistischen Planwirtschaft zu werten. Nach einem halben Jahrhundert unvorstellbarer Entbehrungen und leiden der sowjetischen Bevölkerung war Moskau genötigt, die Länder des “absterbenden Kapitalismus” um Gewährung von Krediten und westlichem “Know-How” zu ersuchen.
Schon etwa sechs Jahre betreibt Moskau die sogenannte Entspannungspolitik. Welche Zwischenbilanz der Détente kann der Kreml zur Zeit ziehen?
Als negativ für die Belange Moskaus sind folgende Erscheinungen zu betrachten:
a) Vertiefung des Konfliktes mit Peking. Die Durchführung der sowjetisch-amerikanischen Détente hat zu einer Verschärfung des sowjetisch-chinesischen Konfliktes beigetragen. Bisher ist es Moskau nicht gelungen, Pekings Misstrauen gegen den sowjetisch-amerikanischen Entspannungskurs zu beseitigen. China liess sich weder durch Zitate aus Lenins Werken, noch durch sowjetische Einschüchterungsversuche beeinflussen. Die Chinesen sind davon fest überzeugt, dass aus der Détente-Politik entweder beide Supermächte oder eine von ihnen, aber keinesfalls Peking Nutzen ziehen werde. Du Chinesische Volksrepublik reagiert auf den sowjetisch-amerikanischen “Flirt” mit der Wut eines Geprellten.
b) Unerwünschte innenpolitische Auflockerung. Die Entspannungspolitik hat zweifellos den inneren Widerstand gegen die Kontrolle des totalitären Apparats in der UdSSR verstärkt. Die Détente hat in bedeutendem Mass den Mythos einer dem Sowjetvolk von Seiten der “Imperialisten” drohenden Ge fahr zunichte gemacht. Die demagogischen Behauptungen der sowjetischen Massenmedien, dass sich der ideologische Kampf im Zeitalter der Detente zuspitzte, ist in der gegebenen Situation nicht wirksam genug. Als wichtigster Prügelknabe der Sowjetpropaganda figuriert auch weiterhin der Weltzionismus.
Das Sowjetregime ist angesichts einer grösseren Auswanderungsbewegung kaum mehr imstande, eine strikte Kontrolle der Information und eine effektive Manipulierung der öffentlichen Meinung zu gewährleisten. Die Aufrechterhaltung des repressiven Staatsapparats ist bei Abwesenheit des kalten Krieges eine psychologisch komplizierte Aufgabe.
Die Vorteile, die Moskau aus der Entspannungspolitik zieht, überwiegen jedoch bei weitem die Nachteile und Gefahren. Auf der Erfolgsliste des Kremls stehen folgende Punkte:
Der UdSSR ist es gelungen, eine militärisch-strategische Parität mit den USA zu erreichen.
Die Détente hat Moskau nicht daran gehindert, “nationale Befreiungsbewegungen” in der ganzen Welt militärisch und politisch zu unterstützen. Hierbei hat der Kreml keine Gegenaktion von seiten des Westens zu befürchten.
Eine direkte Folge der Entspannungspolitik ist die Anerkennung der DDR durch Bonn. Die Schlussakte von Helsinki haben die sowjetische Hegemonie in Osteuropa legitimiert.
Die Détente hat beachtliche westliche Kapitalanlagen in der sowjetischen Wirtschaft ermöglicht. Die Fortführung dieser Politik könnte dazu beitragen, die der sowjetischen Planwirtschaft anhaftenden Mangel wettzumachen. Moskau ist insbesondere an langfristigen Wirtschaftsabkommen interessiert. Die Verschuldung des Sowjetblocks wird hierbei als Faktor betrachtet, der die wirtschaftliche Unabhängigkeit des Westens beeinträchtigen könnte.
Moskau ist sich der Gefahren bewusst, die die Begleiterscheinungen der Entspannung mit sich bringen. Doch bisher glaubten die Sowjets, diese Gefahren bannen zu können. Es lässt sich annehmen, dass Moskau sich auch weiterhin bemühen wird, die gegenwärtige Entspannungspolitik fortzuführen.
Es steht zu erwarten, dass der aussenpolitische Kurs der CarterAdministration gegenüber der UdSSR auf Aufrechterhaltung der Détente ausgerichtet sein wird. Entspannung und Zusammenarbeit sind im Atomzeitalter unumgänglich. Der Grundstein der Entspannung — Vermeidung einer militärischen Konfrontation — bleibt unangetastet. Man muss aber auch darauf bestehen, dass wahre Entspannung auf beiderseitiger Kompromissbereitschaft beruhen muss und einseitige sowjetische Vorteile ausschliesst.
Robert Herzenherg

[Aufbau Feb. 4, 1977. p.5]

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