Sonderfall Polen

Notgedrungene Kompromissbereitschart der Warschauer Parteiführung

Polen ist zur Zeit wohl das einzige osteuropäische Land, dem der Kreml weitgehende Zugeständnisse macht. Im laufe der letzten 20 Jahre kam es in Polen dreimal zu Massenrevolten (1956, 1970 und im Frühsommer 1976). Die Moskauer Führung ist sich dessen bewusst, dass im Falle erneuter Unruhen jedes militärische Eingreifen der in Polen stationierten sowjetischen Besatzungstruppen auf den erbitterten Widerstand breiter Schichten der Bevölkerung stossen könnte. Wie sich die polnische Armee in einer derartigen Situation verhalten würde, lässt sich kaum vorhersagen. Moskau sieht sich daher genötigt, grösste Nachsicht zu üben.
Kurz vor Weihnachten 1976 geschahen im kommunistischen Polen Dinge, die wie ein Märchen klingen: Der Sejm verabschiedete zusammen mit dem neuen Fünfjahresplan ein Gesetz, das die Privatinitiative fördern soll. Die rund 200,000 privaten Unternehmer der Republik dürfen in Zukunft ihre Preise nach den tatsächlichen Produktionskosten kalkulieren, sollen vom Staat mit Rohstoffen beliefert werden, Betriebsgrundstücke erhalten und brauchen nur noch ein Sechstel der bisherigen Steuerlast zu zahlen.
Die polnische Regierung sah sich zu dieser Förderungsmassnahme nur wegen der schweren Versorgungskrise des Landes und wachsender Unruhe in der Bevölkerung veranlasst. Allerdings zeugt die Tatsache, dass Partei und Regierung die Rolle des privaten Unternehmertums offen anerkennen, von einem bedeutenden Mass politischer Flexibilität. Dreissig Jahre nach der Machtergreifung gab die Polnische Arbeiterpartei die recht widersprüchliche Erklärung ab, dass “selbständige Unternehmer für den Aufbau eines entwickelten Sozialismus wertvoll sind”.
Auch den Dissidenten gegenüber verhalten sich Partei und Sicherheitsbehörden bedeutend vorsichtiger, als es in der UdSSR oder in der Tschechoslowakei der Fall ist. Ein Beispiel sind die komplizierten Beziehungen zwischen den offfizielen Behörden und dem “Komitee für Arbeiterschutz”, das kurz nach den Juniunruhen ins Leben gerufen wurde. Bisher hat das Komitee vier Kommuniqués veröffentlicht. Sie enthalten nur unbestreitbare Tatsachen: die Namen der Polizisten, die streikende Arbeiter misshandelten, Adressen der tätlich angegriffenen Werktätigen, Berichte über politisch motivierte Entlassungen und dergleichen mehr. Das Komitee, das aus etwa zwanzig Vertretern der Inteligenz besteht, stützt sich auf die kräftige Mithilfe Tausender jugendlicher Aktivisten, zu denen Mitglieder der kommunistischen Jugendorganisation, vor allem aber junge Katholiken gehören.
Auf einer unlängst abgehaltenen Konferenz der polnischen Bischöfe wurde ein Beschluss gefasst. in dem es heisst: “Es ist die Pflicht der Kirche, die zu unterstützen, die den in schwerer Not befindlichen Arbeitern helfen.” Dieser Appell war durchaus wirksam. Dem Arbeiterhilfsfonds wurden grössere Geldsummen gespendet.
Fünf Rechtsanwälte haben sich bereit erklärt, die Interessen der während der Unruhen verhafteten Arbeiter vor Gericht zu vertreten. Dank ihrer Bemühungen ist es gelungen, mehrere Urteile zu revidieren. In anderen Fällen hat das Gericht bei Behandlung von Kassationsklagen die Straffrist verkürzt. Dieser Tage hat Parteisekretär Gierek erklärt, dass alle noch in Haft befindlichen Arbeiter schon in den kommenden Monaten entlassen werden sollen.
Die Partei sieht sich genötigt, der realen Situation im Lande Rechnung zu tragen. In Polen besteht zur Zeit eine starke Solidarität zwischen Intellektuellen und Arbeitern, die sich der Unterstützung der katholischen Kirche erfreut. Nur unter Berücksichtigung dieser neuentstandenen Faktoren wird die Nachgiebigkeit der kommunistischen Führung verständlich, und das zu einer Zeit, in der in der Sowjetunion, in der DDR und der Tschechoslowakei ein besonders repressiver Kurs gesteuert wird.
Natürlich verläuft nicht alles reibungslos. Die Behörden versuchen, das “Komitee für Arbeiterschutz”, wo es nur immer geht, zu schikanieren. So wurde z.B. ein Teil der für den Arbeiterhilfsfonds geleisteten Spenden beschlagnahmt. Die Mitglieder des Komitees wurden mehrfach zu Verhören vorgeladen. Bei alledem wird die Lage der Regierung und Partei immer komplizierter und der taktische Spielraum der polnischen Führung verengt sich zusehends.

[Aufbau Feb. 25, 1977. p.5]

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