Moskaus Sorgen in Osteuropa

Ursachen und Zusammenhänge

Obwohl die sowjetische Propaganda die Bevölkerung der Ostblockländer tagtäglich mit der “Gefahr des Imperialismus” einzuschüchtern sucht, lagen in den letzten 25 Jahren die realen Unruheherde im osteuropäischen Imperium Moskaus. Dreimal sah sich die Sowjetunion genötigt, taktische oder imaginäre Rebellionen auf dem Gewaltwege niederzuschlagen (1953 — in der DDR, 1956 — in Ungarn und 1968 — in der Tschechoslowakei).
Die eigentliche Konfliktursache in Osteuropa lässt sich auf das bisher bestehende Stalin-Erbe zurück führen. Da den Satellitenländern nach Kriegsende ein dem sowjetischen Vorbilde gleichendes autoritäres Regime durch Stalin aufgezwungen wurde, bergen jegliche politische Konzessionen Moskaus in Osteuropa die Gefahr in sich, unmittelbare Folgen in der Sowjetunion selbst zu zeitigen. Die eventuelle Gewährung innenpolitischer Reformen in den osteuropäischen Satellitenstaaten durch den Kreml Würde analoge Forderungen in den nationalen Sowjetrepubliken (im Baltikum, in der Ukraine und in Kaukasien) nach sich ziehen. Nur unter Berücksichtigung des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen den Ereignissen in Osteuropa und den Vorgangen in der Sowjetunion selbst, sowie des sich standig verengenden Spielraums der sowjetischen Führung, werden die Motive verständlich, die den Kreml veranlassen, die sich zur Zeit in den “Volksdemokratien” vollziehende Entwicklung mit steigender Unruhe tu verfolgen.
Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs stand Stalin vor der Wahl mehrerer politisch-struktureler Varianten in Osteuropa. Er erwog zunächst die Möglichkeit die Satellitenstaaten auf föderativer Grundlage in die UdSSR einzuverleiben. Es existierte sogar ein konkreter Plan, der die Schaffung von drei grossen Föderationen vorsah (Jugoslawien und Bulgarien sollten hierbei eine gemeinsame Sowjetrepublik bilden; die Ukraine, Rumänien und Ungarn — eine zweite föderative Einheit; Polen, die Tschechoslowakei und Belorussland — ein dritte; der deutschen Ostzone hatte Stalin offenbar eine besondere Rolle zugedacht).
Doch der sowjetische Diktator verwarf schliesslich die Idee der Inkorporation der osteuropäischen Länder in die UdSSR. Ausser der Befürchtung, dass eine derart grobe Verletzung der Abkommen von Jalta zu unerwünschten Reaktionen von seiten der westlichen Verbündeten hätte führen könne, hegte Stalin auch Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Untertanen. Die “Ansteckungsgefahr” der osteuropäischen parlamentarischen Traditionen hätte in einem föderativen Staatsgebilde besonders akut werden können.
Die zweite Variante, die Stalin nach Kriegsende vorübergehend ins Auge fasste, bestand in einer Neutralisierung Osteuropas, d.h. Schaffung freundschaftlicher, prosowjetischer, jedoch unabhängiger Staaten — nach dem Vorbilde Finnlands. Was die “freundschaftliche” Gesinnung der befreiten und danach okkupierten Länder betraf, gab Stalin sich keinerlei Illusion hin.
So entschied er sich für den dritten Weg – Gewährung formeller Unabhängigkeit bei gleichzeitiger totaler innen- und aussenpolitischer Kontrolle durch Moskau. Die Präsenz der Sowjetarmee wurde zur Voraussetzung der Hegemonie Moskaus in Osteuropa.
Zu Lebzeiten Stalins war die Lage in den Satellitenländern verhältnismässig stabil. Der Terror lähmte potentielle Widerstandskräfte. Die Erben Stalins sind jedoch kaum mehr imstande, eine straffe Disziplin in ihrem osteuropäischen Vorgelände aufrechtzuerhalten. Die Widersprüchlichkeit der Lage besteht vor allem darin, dass jeglicher Schritt, der die wahre Autorität der osteuropäischen Regierungen in den Augen der eigenen Bevölkerung festigen könnte, von Moskau nicht akzeptiert wird. Demokratisierungsversuche Dubcekscher Prägung tragen — vom Standpunkt Moskaus aus — den Keim drohender Gefahr in sich. Sie könnten einen vielfachen Dominoeffekt im sowjetischen Imperium hervorrufen. Daraus resultiert die paradoxe Natur der sowjetischen Politik Osteuropa gegenüber – durch seine Handlungen verhindert Moskau die psychologische Legitimierung der von ihm abhängigen Regime.
Eine politische Legitimierung Osteuropas suchte der Kreml in Helsinki zu erwirken. Obwohl Moskau sein Hauptziel — die internationale Anerkennung der Nachkriegsgrenzen des Ostblocks — zu erreichen vermochte, sind infolge der Schlussakte von Helsinki unerwartete Nebenerscheinungen zutagegetreten. Breschnew und seine osteuropäische Kollegen haben bei Unterzeichnung des Manifestes in der finnischen Hauptstadt kaum geahnt, dass die in Korb III vorgesehenen humanitären Bestimmungen von den eigenen Untertanen (insbesondere in Polen, in der DDR, der Tschechoslowakei und in der UdSSR selbst) wirklich ernst genommen würden. Ein für Moskau höchst unliebsamer Faktor ist ferner die Unterstützung der Opfer von Verfolgungen und Repressalien in den sozialistischen Ländern durch die italienischen, französischen und spanischen Kommunisten.
Das schwächste Glied der sozialistischen Front ist und bleibt Polen. Die im Entstehen begriffene Solidarität zwischen dissidierenden Intellektuellen und zu einer abermaligen Rebellion fähigen Arbeitern macht die polnische Situation besonders explosiv.
Die Eventualität einer künftigen sowjetischen Intervention in Polen schreckt den Kreml. Die sowjetische Führung ist sich dessen bewusst, dass etwaige Unruhen auch die an Polen grenzenden Sowjetrepubliken — vornehmlich Litauen und die Ukraine — erfassen konnten. Dieser Umstände wegen ist Moskau der Warschauer Regierung gegenüber zu grösseren Konzessionen mehr bereit als je zuvor.

L.K.

[Aufbau Apr.1, 1977. p.6]

  SCAN