Antisemitismus als “Manifestation des Klassenkampfes”

Was Stalin versäumte, will Breschnew nachholen

Die sowjetische Spielart des Antisemitismus ist in eine entscheidende Phase getreten. Während in den Massenmedien der UdSSR jahrzehntelang nur von der “Gefahr des Weltzionismus” die Rede war, wird in jüngster Zeit der Antisemitismus als “verständliche Abwehrreaktion der durch die jüdische Bourgeoisie ausgebeuteten Massen” gerechtfertigt. Damit wird der Versuch unternommen, den Antisemitismus marxistisch zu untermauern. Diese ideologisch ausgerichtete Wendung der sowjetischen Presse steht in engstem Zusammenhang mit der Vorbereitung der Schauprozesse gegen jüdische Dissidenten (Anatolij Schtscharansky u.a.), die beschuldigt werden, sich als CIA Spione betätigt zu haben.
Historisch bedeutungsvoll ist es, dass Breschnew und seine Getreuen das Motiv einer gegen die Sowjetmacht gerichteten jüdisch-internationalen Verschwörung von Josef Stalin übernommen haben. Man erinnere sich nur an die sogenannte kosmopolitische Kampagne Ende der vierziger Jahre, als in der Sowjetpresse die russischen Familiennamen bekannter Kunstler und Gelehrter durch die in Klammern gesetzten ursprünglichen jüdischen Namen ergänzt wurden. Die damalige Kampagne, die zu zahlreichen Verhaftungen führte, wurde mit der angeblichen Notwendigkeit ideologischer Wachsamkeit, gegenüber den Machenschaften antikommunistischer Kreise des Westens und deren “Lakaien” in der UdSSR begründet. Kosmopolitismus war damals ein Euphemismus für “Judentum”.
Die Äteverschwörung” (1952-1953) war der Höhepunkt des Stalinschen Antisemitismus. Damals wurden vornehmlich jüdische Arzte, die die Kremlherren behandelt hatten, beschuldigt, im Solde jüdischer Weltorganisationen (wie z.B. des Joint Distribution Committee) zu stehen. Stalins Tod rettete die Sowjetjuden vor der drohenden Deportierung. Doch sogar damals wagte es Stalin nicht, die marxistische Theorie mit antisemitischen Gedankengängen zu “bereichern”. Was Stalin versäumte holt nun Breschnew nach.
Immer häufiger werden in der Sowjetunion Bücher und Zeitungsartikel veröffentlicht die zu beweisen suchen, dass der “zionistische Weltvcrschwörung” die judaistische Konzeption des auserwählten Volkes zugrunde liege. Aus diesen pseudobiblisch präparierten Thesen wird eine auf die Gegenwart bezogene Schlusffolgerung gezogen: Juden, die sich als Elite der Menschheit betrachten, streben nach der Weltherrschaft. Diesen Ziele diene die erfolgreiche Erweiterung der jüdischen Machtsphäre in Industrie, Wirtschaft und Politik in den westlichen Ländern.
V. Begun, Verfasser einer der zahlreichen antisemitischen Schriften, die in der UdSSR in Massenauflagen erscheinen, schreibt unter anderem: “Die wichtigste Aufgabe des zionistischen Gehirnzentrums besteht darin, Schlüsselpositionen auf administrativem, ideologischem, und wirtschaftlichem Gebiet in den Ländern der Diaspora zu erlangen.”
Die in der sowjetischen Hauptstadt erscheinende literarisch-politische Zeitschrift “Moskwa” veröffentlichte eine ausführliche — höchst lobpreisende — Besprechung von Beguns Machwerk. Der Rezensent stimmte der von Begun entwickelten These zu, der zufolge “Antisemitismus als spontane Reaktion der durch die jüdische Bourgeoisie ausgebeuteten Massen” anzusehen sei. Weiter verkündete Begun, dass derartige Reaktionen als “Manifestationen des Klassenkampfes” betrachtet werden können.
Bekanntlich mangelt es nicht an antisemitischer Lektüre in Westdeutschland, in den USA und anderen westlichen Ländern. Der Unterschied liegt darin, dass in kommunistischen Ländern nichts ohne vorherige staatliche Sanktionierung gedruckt werden kann. Sogar Konzert- und Theaterprogramme bedürfen der schriftlichen Genehmigung der für die Zensur zuständigen Stellen. Es wäre daher naiv, anzunehmen, die jüngsten antisemitisehen Hetzschriften der Sowjetpresse seien zufällige, nicht symptomatische Erscheinungen. Faktisch handelt es sich um eine zentral geplante Kampagne, die offenbar ihren Kulminationspunkt während des Schtscharansky-Prozesses erreichen soll.
L. K.

[Aufbau Sep. 30, 1977. p.3]

   SCAN