Schikanen der Moskauer Antisemiten

Akademische Bürokratie gegen Zulassung von Juden zum Universitätsstudium

Von Zeit zu Zeit veröffentlicht die sowjetische Presse Interviews mit sogenannten “fortschrittlichen” Amerikanern, die nach ein- oder zweiwöchigem Aufenthalt in der UdSSR endlich “mit eigenen Augen gesehen haben, wie gut es den Juden in der Heimat des Sozialismus geht”. Hierbei streiten diese “Kenner” der Sachlage kategorisch ab, dass es in der Sowjetunion einen Antisemitismus gibt. Das sei, behaupten sie, eine böswillige Erfindung der sensationslüsternen westlichen Massenmedien.

Der New Yorker Verlag “Khronika Press”, der sowjetische Dissidentenliteratur herausgibt, publizierte kürzlich unter dem Titel “Existiert in der UdSSR Antisemitismus?” eine höchst aufschlussreiche Schrift, dessen anonymer Verfasser in der Sowjetunion lebt. Die Veröffentlichung befasst sich hauptsächlich mit der Situation der Sowjet jüdischen Jugend.

Die Diskriminierung der Juden bei Bewerbung um ein Universitätsstudium ist heute in der UdSSR zu einer allgemein bekannten Tatsache geworden. Dieses traurige Thema findet — wie das ja oft der Fall ist — seinen Niederschlag in Anekdoten und Witzen. Der jüngste Witz hierzu lautet wie folgt:

“Tag, Rabinowitz! Wie geht’s denn Ihrem Sohn?” — “Danke. Er hat erst gestern an der Moskauer Universität seine Aufnahmeprüfungen abgelegt. Er hat lauter Fünfer gekriegt.” (In der Sowjetunion gilt “5” als beste Note.) — “Das ist ja grossartig. Dann kann man ja Ihnen wahrscheinlich gratulieren?” — “Ach, wo denn! Der Vorsitzende der Prüfungskommission hat ihm gesagt, dass er eine übrige Fünf hat.” Gemeint ist Punkt 5 des üblichen sowjetischen Fragebogens — und zwar Angabe der “Nationalität”, d.h. der ethnischen oder Volkszugehörigkeit.

Die gegenwärtige Judenpolitik des Kremls lässt sich folgendermassen kennzeichnen: ältere Menschen “jüdischer Abstammung”, die seinerzeit zu Amt und Würden gelangt sind, werden nicht entlassen. Sie werden ohnehin früher oder später pensioniert. Dagegen werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um deren Enkel und Kinder vom Studium an höheren Lehranstalten auszuschliessen. Um den “guten Ruf des Sowjetlandes im Westen” nicht zu gefährden, darf die ganze Angelegenheit nicht an die grosse Glocke gehängt werden. Geheime Parteidirektiven sind aufs genaueste zu befolgen. Bei gleichzeitiger Auswanderung dürften die wissenschaftlichen Institutionen und der Verwaltungsapparat der UdSSR in 10-15 Jahren “judenrein” sein.

Der anonyme Korrespondent aus der Sowjetunion analysiert in seinem umfangreichen Bericht die Situation an den bekanntesten Universitäten der UdSSR. Besonders ausführlich wird die Lage an der Nowosibirsker Universität dargestellt.

Diese Lehranstalt existiert seit etwa 20 Jahren. Sie ist aufs engste mit der Tätigkeit der sibirischen Filiale der Akademie der Wissenschaften der UdSSR verbunden. Ende der fünfziger Jahre begaben sich nach Sibirien bekannte Moskauer und Leningrader Gelehrte. An der Nowosibirsker Universität waren hervorragende Lehrkräfte tätig.

Bald offenbarte sich eine paradoxe Erscheinung. Es stellte sich heraus, dass zahlreiche Studenten aus dem europäischen Teil der UdSSR stammten. Bei näherer Betrachtung erwies es sich, dass der Prozentsatz der Juden unter den nichtsibirischen Studenten besonders hoch war.

1967 kam es zu den ersten antisemitischen Exzessen. Eine Gruppe angeheiterter russischer Studiosi setzte es sich eines Abends zum Ziel, die Nationalität sämtlicher Personen, die das Studentenheim betraten, klarzustellen. Wer sich als Jude erwies, wurde kurzerdings verdroschen. Damals sah sich das Rektorat genötigt, die Rowdys zu relegieren (einer von ihnen wurde kurz danach wieder zum Studium zugelassen).

Bald darauf wurden in den Hörsälen und in dem Studentenheim der Universität Nowosibirsk maschinegeschriebene Flugblatter verteilt, in denen es hiess, die Alma mater sei ganz und gar verjudet. Mit diesem Misstand müsse aufgeräumt werden. Die Universitätsverwaltung gab sich keine besondere Mühe, die Verfasser der Flugblätter ausfindig zu machen.

Anfang der siebziger Jahre unternahm die Obrigkeit ernste Schritte, um die Zahl der an der Univerität studierenden Juden zu reduzieren. Besondere Energie offenbarten mehrere Professoren der mathematischen Fakultät Zahlreiche jüdische Studenten wurden in kürzester Frist von der Universität verwiesen. Der offizielle Grund hierfür lautete: antisanitärer Zustand der von den betreffenden Studenten bewohnten Zimmer. Prorektor Selenjak, der diese Parteikampagne betrieb, erklärte auf einer Grosskundgebung, dass sich an der Universität ein “zionistisches Zentrum” eingenistet habe, das danach strebe, die Lehrkräfte und Studenten mit der Cholera zu verseuchen! Unter den Relegierten waren viele hochbegabte jüdische Studenten.

Selenjak gründete damals einen Sonderausschuss, der geheime Grundregeln für die Immatrikulierung künftiger Studenten ausarbeiten sollte. Anfangs ging man davon aus, nicht mehr als 1,5 Prozent jüdischer Studenten aufzunehmen; diese Ziffer entspreche angeblich der Proportion der Juden zur Gesamtbevölkerung der UdSSR. Aber auch dieser Prozentsatz schien den Antisemiten und der Parteileitung zu hoch. Selenjak und seine “Kampfgenossen” errechneten eine niedrigere “maximal” zulässige Ziffer.

Da jeder Sowjetbürger im Fragebogen die Nationalität von Vater und Mutter anzugeben hat, lässt sich leicht herausfinden, wer Voll- und Halbjude ist. In einer Geheimsitzung des Ausschusses wurde darüber diskutiert, ob zwei Halbjuden einem Volljuden gleichzusetzen seien. Die radikalen Antisemiten setzten sich dafür ein, bei den “Aufnahmeregeln” Halbjuden und Volljuden einander “gleichzustellen”. “Liberalere” Elemente rieten, zwei Halbjuden einem Volljuden gleichzusetzen.

Der Dekan der philologischen Fakultät der Nowosibirsker Universität, Prof. Moletotow, meinte, ihm als Nichtmathematiker falle es schwer, solche Finessen zu begreifen. Darum würden an seiner Fakultät künftig überhaupt keine Juden mehr studieren.

Die geheimen Immatrikulierungsregeln werden an der Nowosibirsker Universität schon mehrere Jahre lang angewandt. Auf diese Weise ist die Lehranstalt so gut wie “judenrein”.

Die diesbezügliche Situation an den Universitäten von Moskau, Leningrad und Kiew sowie an anderen sowjetischen höheren Lehranstalten, die sich eines “guten Rufes” erfreuen, ist die Situation ungefähr die gleiche wie in Nowsibirsk. Faktisch werden jüdische Bewerber zum Studium nicht mehr zugelassen. Nur selten werden Ausnahmen geduldet.

Bei den mündlichen Aufnahmeprüfungen in Mathematik, die gewöhnlich 40 Minuten (pro Person) dauern, werden Juden fünf bis sechs Stunden lang examiniert. Wenn es nicht gelingt, die “Nichtangehörigen der Stammbevölkerung” (Euphemismus für Juden) in der Mathematikprüfung zu eliminieren, so wird ein erneuter Versuch bei der Physikprüfung oder beim schriftlichen Aufsatz unternommen.

Solche Informationen aus der UdSSR über die Lage der sowjetjüdischcn Jugend erleichtern das Verständnis dafür, warum immer mehr junge Juden um die Auswanderung aus ihrer “Sowjetheimat” bemüht sind.

L.K.

[Aufbau Sep. 15, 1978. p.5]

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