Michail Suslow — die graue Eminenz in Kreml
Der 71jährige Michail Suslow — die “graue Eminenz des Kremls”, wie er in Moskauer Diplomatenkreisen oft genannt wird — ist als Chefideologe einer der einflussreichsten Sowjetführer. Er ist auch für die amerikanische Öffentlichkeit, die wenig von ihm weiss, eine rätselhafte Persönlichkeit. “Dieser Informationsmangel”, so sagte unlängst Malcolm Toon, der einstige amerikanische Botschafter in Moskau, “ist umso bedauerlicher, als Suslow einer der mächtigsten Männer in der Sowjethierarchie ist.”
Die von sachkundigen Kreml-Beobachtern vertretene Auffassung, dass Suslow bei der Entscheidung, die Sowjetarmee in Afghanistan einmarschieren zu lassen, seine Hand im Spiel gehabt hat, dürfte durchaus zutreffend sein. Es nimmt daher nicht wunder, dass er kürzlich auf dem polnischen Parteikongress in Warschau als Chefdelegierter des sowjetischen Politbüros in aggressivster Form die sattsam bekannte Propagandathese vertrat, schuld an den tragischen Vorgängen in Afghanistan seien einzig und allein die amerikanische CIA und die chinesischen Agenten. Bezeichnenderweise drückte sich der politische Parteichef Gierek in diesem Zusammenhang erheblich zurückhaltender aus.
Zweifellos ist Suslow, der Greis mit dem Asketengesicht eines Jesuitenmönchs, einer der unerbittlichsten Neo-Stalinisten im sowjetischen Politbüro. Bei der Entmachtung Nikita Chruschtschews im Jahre 1964 spielte er eine ausschlaggebende Rolle und auch die Entscheidung über Breschnews Nachfolge dürfte kaum ohne seine Zustimmung getroffen werden.
Suslow entstammt einer Bauernfamilie. Der bolschewistischen Partei trat er 1921 bei und in den dreissiger Jahren, unter Stalin, begann seine politische Karriere. Unter den heutigen Politbüromitgliedern ist Suslow — abgesehen von Premierminister Kossygin, der in der Stalinepoche leitende Wirtschaftsfunktionen ausübte — wohl der einzige Parteiveteran, dem der “Führer der Weltrevolution und Vater der Völker” Schlüsselpositionen anvertraute.
Laut der Grossen Sowjetischen Enzyklopädie zeichnete sich Michail Suslow in den dreissiger Jahren durch seinen unerbittlichen Kampf gegen “die Trotzkisten und die rechten Oppositionsführer” aus. Im Ural leitete er Stalins Säuberungsaktion gegen “Schädlinge”. 1944 wurde er als Parteisekretär nach Litauen entsandt, wo er die Aufgabe übernahm, litauische Nationalisten, die nach der staatlichen Unabhängigkeit ihrer Republik strebten, “unschädlich” zu machen. Auf Suslows Initiative hin wurden Zehntausende litauischer Dissidenten nach Sibirien deportiert. 1947 wurde Suslaw Sekretär des Zentralmitees der KPdSU. Seither ist er zuständig für kommunistische Propaganda und Ideologie. Man weiss auch, dass Suslow ein fügsames Werkzeug in Stalins Händen war, als Jugoslawien 1948 aus dem moskauhörigen Kominform — im Zuge von Titos Rebellion — ausgeschlossen wurde.
Obwohl im Westen über Suslows Rolle bei den Vorgängen, die der sowjetischen Invasion der Tschechoslowakei vorangingen, nur wenig bekannt ist, lässt sich vermuten, dass der “Veteran der kommunistischen Bewegung” einer der Drahtzieher der sowjetischen Intervention war.
Trotz seines Alters ist Michail Suslow auch heute überaus aktiv. Im Sommer 1978 war er der Hauptredner auf einer Moskauer Lehrerkonferenz. Ende 1978 figurierte er als Repräsentant des sowjetischen Politbüros auf einer Tagung der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Im Oktober vergangenen Jahres führte er den Vorsitz auf einer Tagung der marxistisch-leninistischen “Erzieher” des Landes. In einer Rede sagte er u.a.: “Die Partei erfüllt ihre leitende Aufgabe in der Sowjetgesellschaft auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Gesetzmässigkeiten der sozialen Entwicklung, sowie aufgrund einer tiefschürfenden Analyse der Vergangenheit, der gegenwärtigen Realität und der dominierenden Tendenzen des sozialen und politischen Geschehens.”
Dieser Gedanke — das Monopolrecht der kommunistischen Partei auf wissenschaftliche — und deshalb “wahre” — Erkenntnisse der Welt zurückzuführen, ist nicht neu. Marx, Engels, Lenin und Stalin waren Verkünder des sogenannten wissenschaftlichen Kommunismus. Das sowjetische Politbüro handelt sozusagen im Einklang mit den Gesetzen der Weltgeschichte. Von diesem Standpunkt aus sind sämtliche Aktionen des Kremls gerechtfertigt. Gleichzeitig werden Stalins Massenverbrechen bagatellisiert. Heute versucht die Partei — unter der ideologischen Leitung Michail Suslows —, die GULAG-Tragödie totzuschweigen.
Suslows Einfluss beschränkt sich keineswegs auf theoretische Fragen. Die “graue Eminenz” übt auch einen entscheidenden Einfluss auf de Militarisierung der UdSSR aus. Im Gegensatz zu der westlichen Detente-Euphorie, hat Suslow die sowjetische Auffassung der “friedlichen Koexistenz” klipp und klar zum Ausdruck gebracht. In einer Rede auf der Warschauer Parteikonferenz sagte er, dass die Entspannung zwischen Ost und West deshalb zu begrüssen sei, weil sie dem Kommunismus neue Perspektiven eröffne.
In informierten Kreisen wird Suslow nicht nur als neostalinistischer “Falke”, sondern auch als Repräsentant des “Nationalbolschewismus” betrachtet. Es war wohl kein Zufall, dass er 1979 in einem in Moskau und Leningrad verbreiteten Flugblatt als einer der “treuen Söhne Russlands” im “prozionistischen Politbüro” bezeichnet wurde Die Flugblätter waren in einer Moskauer Staatsbehörde heimlich photokopiert worden.
L.K.
[Aufbau Mar. 21, 1980. p.5]