Kritische Phase der sowjetjüdischen Auswanderung

Die Auswanderung der Sowjetjuden im vergangenen Jahr erreichte eine Rekordhöhe (über 51,000). Amerikanische Beobachter erklärten das damit, dass der Kreml in Washington eine günstige Stimmung zwecks Ratifizierung des SALT-II-Abkommens und Gewährung des Meistbegünstigungsstatus durch den US-Senat sicherstellen wollte.
Nach der Invasion Afghanistans und der Verhaftung und Verbannung des Nobelfriedenspreisträgers Andrej Sacharow wurde im Westen befürchtet, dass Moskau — infolge der Verschärfung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen — die jüdische Auswanderungsbewegung stoppen würde. Diese düsteren Prognosen haben sich jedoch bisher (d.h. in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres) nicht bewahrheitet. Die Zahl der vom 1. Januar bis zum 31. März d.J. in Wien eingetroffenen Sowjetemigranten beträgt im Monatsdurchschnitt annähernd 3000. Die sowjetischen Auswanderungsbehörden waren seit Beginn der jüdischen Massenauswanderung stets bemüht, jedwede auf logischer Analyse beruhenden Schlussfolgerungen seitens der Auswanderungswilligen selbst sowie seitens westlicher Regierungen und Menschenrechtsorganisationen unmöglich zu machen. Auf diese Weise läuft Moskau nicht die Gefahr, die Kontrolle über den Emigrationsprozess zu verlieren. Ungeachtet der Tatsache, dass in den letzten zehn Jahren über 230,000 Sowjetjuden Ausreisevisen gewährt wurden, konnte und kann kein einziger Sowjetjude mit Bestimmtheit damit rechnen, dass sein Antrag — nach langer Wartezeit — genehmigt wird.
In Moskau hat sich die Warteperiode in jüngster Zeit erheblich verlängert. Meist dauert es elf bis zwölf Monate, bis der Auswanderungswillige einen endgültigen Bescheid bekommt. Auch hat sich die Zahl der “Refuseniks” seit 1979 beträchtlich gesteigert. Fast keiner von den im Westen bekannten Aktivisten, denen meist schon sieben bis acht Jahre lang die Auswanderung versagt wird, durfte emigrieren.
Seit dem Spätherbst 1979 wenden die sowjetischen Auswanderungsbehörden neue “Spielregeln” an. In vielen Städten wird nur denjenigen Sowjetjuden gestattet, ihre Auswanderungspapiere einzureichen, die eine Einladung von ihren in Israel lebenden Kindern oder Eltern vorweisen können. In manchen Städten werden auch Geschwister als “nahe Verwandte” anerkannt.
Die Lage variiert in den einzelnen Städten. Ende Dezember vergangenen Jahres weigerte sich der Kiewer OVIR (sowjetische Visen- und Passbehörde), die Papiere von 220 auswanderungswilligen jüdischen Familien in Empfang zu nehmen. Als Grund wurden oft “nichtexistente direkte Verwandtschaftsbeziehungen” zwischen den Antragstellern und ihren Angehörigen in Israel angegeben. Seitdem hat sich die Lage in Kiew keineswegs verbessert. Auswanderungs papiere werden nur dann weitergeleitet, wenn “direkte Verwandtschaftsbeziehungen” nachgewiesen werden können. Hinzu kommt eine weitere Komplikation: Der OVIR akzeptiert Auswanderungsgesuche meist nur in den Fällen, wo sämtliche Familienmitglieder zu emigrieren bereit sind (zuweilen trifft aber das Gegenteil zu — wenn Anweisungen von höheren Instanzen vorliegen, beharrt OVIR auf einer Familientrennung).
In Tschernowzy (Ukraine) befasst sich OVIR überhaupt nicht mehr mit Auswanderungsangelegenheiten. Ob es sich um eine temporäre Massnahme handelt, ist ungewiss.
In Bobruisk (Belorussische SSR) figuriert “unzureichende Verwandtschaftsnähe” als häufigster Grund für Visenverweigerung. Dessenungeachtet warten etwa 500 jüdische Familien auf den Augenblick, ihre Papiere einreichen zu dürfen. OVIR empfängt Besucher nur wenige Stunden in der Woche.
Die Emigrationssituation hat sich in den letzten Monaten auch in Odessa und Lwow verdüstert. Auch hier werden gegen die jüdischen Auswanderungswilligen die neuen “Spielregeln” in Anwendung gebracht. Aber auch diese strikten Regeln werden völlig willkürlich gehandhabt. Es sind zahlreiche Fälle bekannt, wo sowjetjüdischen Auswanderungswilligen keinerlei bürokratische Hindernisse in den Weg gelegt werden. Hierdurch erreicht der Kreml eines seiner Ziele — allgemeine Konfusion in sowjetjüdischen Kreisen sowie Verwirrung im Westen.
Es ist auch zu einer Verlagerung der wichtigsten Auswanderungszentren gekommen. Während bis Mitte 1979 die meisten sowjetjüdischen Emigranten aus der Ukraine stammten (vorwiegend aus Odessa), treffen jetzt in Wien verhältnismässig viele Moskauer und Leningrader, sowie frühere Bewohner der belorussischen Hauptstadt Minsk ein. Womit lässt sich diese Änderung erklären? Bekanntlich sollen die Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau, Minsk, Leningrad, Kiew und Tallinn abgehalten werden. Das KGB verfolgt die Taktik, westliche Kontakte mit Dissidenten und jüdischen Aktivisten unmöglich zu machen. Selbstverständlich bedarf es — ausser der Auswanderungszonenverlagerung — noch anderer, bedeutend wirkungsvoller Mittel, um Touristen und sowjetjüdischen Auswanderungsaspiranten zu vereiteln. Unlängst wurde bekannt, dass im Moskauer OVIR folgende schriftliche Bekanntmachung zu lesen war: “Vom 19. Juni bis zum 3. September wird Personen, an die Einladungen aus dem Ausland ergangen sind, untersagt, sich in Moskau und dem Moskauer Gebiet, in Minsk, Kiew, Leningrad und Tallinn aufzuhalten.” Das Verbot ist doppelsinnig: dem Wortlaut nach könnte es Ausländer betreffen, die die Absicht hatten, ihre sowjetischen Verwandten in den kommenden Sommermonaten zu besuchen. Es lässt sich aber auch annehmen, dass die Massnahme Sowjetbürger betrifft, die um Auswanderungserlaubnis ersucht haben (auch an sie sind ja Einladungen aus dem Ausland ergangen).
Laut israelischen Informationen und über 150,000 sogenannte Einladungen aus Israel an Sowjetjuden versandt worden. In Moskau, Leningrad, Kiew und Minsk droht demnach zehntausenden auswanderungswilligen Juden die Gefahr, in den kommenden Sommermonaten ihren ständigen Wohnsitz verlassen tu müssen. Um noch grössere Verwirrung zu stiften, greifen die Sowjets zu weiteren drastischen Massnahmen wie z.B. Entzug bereits erteilter Auslandsvisen. Um Ausreden sind die sowjetischen Behörden nie verlegen (plötzliche finanzielle Ansprüche seitens in der UdSSR verbleibender Verwandter; unzureichende Beweise für die Existenz Verwandter ersten Grades”, von denen die Einladung aus Israel ergangen ist, u.a.m.).
Die Ereignisse in Afghanistan und die Vereisung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen haben das übrige dazu beigetragen, die Lage der “Refuseniks” und Aktivisten zusätzlich zu erschweren. Die in manchen Fällen erfolgreiche moralisch-politische Unterstützung durch US-Senatoren, Mitglieder des amerikanischen Repräsentantenhauses und andere prominente Persönlichkeiten in den USA, die sich früher für ihre Schützlinge in der UdSSR einzusetzen pflegten, ist heute hinfällig geworden. Dadurch hat sich die Willkür der Sowjets den auswanderungswilligen Juden gegenüber verstärkt.
Angesichts der olympischen Boykottbestrebungen sind weitere gegen jüdische Aktivisten gerichtete “Strafmassnahmen” seitens der sowjetischen Behörden schon heute vorauszusehen. Es ist durchaus möglich, dass die antizionistische Kampagne in den sowjetischen Massenmedien im Frühsommer bedeutend verschärft wird. Der Boykott der Olympischen Spiele könnte als Verschwörung der um die Welthegemonie bestrebten zionistischen Finanzmagnaten auffrisiert werden, was nicht nur die sowjetisch-jüdischen Aktivisten, sondern auch Hunderttausende anderer Sowjetjuden unmittelbaren Gefahren aussetzen würde.
Der Westen täte gut daran, den Kreml wissen zu lassen, dass die noch vorhandenen westlich-sowjetischen Kontakte im Falle einer antisemitischen Hysterie in der UdSSR abgebrochen werden würden.
L.K.

[Aufbau May 2, 1980. p.2]

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