Lew Kopelew: Vorurteilslose Beurteilung der UdSSR

Westliche Leser sind Lew Kopelews literarischem Prototyp in Alexander Solschenitsyns Roman “Im ersten Kreis der Hölle” begegnet. Parteigenosse Rubin, der als Offizier der Sowjetarmee gegen die Brutalität der siegreichen russischen Truppen der deutschen Zivilbevölkerung gegenüber protestierte und dafür eine lange Freiheitsstrafe im GULAG-Reich abbüssen musste, trägt in Solschenitsyns Roman biographische Züge des heute in der Bundesrepublik lebenden jüdisch-russischen Literaturforschers Lew Kopelew. Bis zur Invasion der Tschechoslowakei stand Kopelew im Banne marxistischer Illusionen. Er glaubte an die Möglichkeit eines “Sozialismus mit menschlichem Antlitz”. Die militärische Invasion der Tschechoslowakei durch die Sowjets und deren Verbündete hat Kopelews Illusionen ein Ende bereitet.
Schon lange war Kopelew den Sowjets ein Dorn im Auge. Er nahm kein Blatt vor den Mund. In seiner Moskauer Wohnung trafen sich westliche Intellektuelle mit ihm, seiner Frau Raissa Orlowa (Expertin auf dem Gebiete der amerikanischen Literatur) und deren Freunden.
Im Gegensatz zu seinem ehemaligen Haftgenossen Alexander Solschenitsyn, der sich monarchistische und antidemokratische Ideen zu eigen gemacht hat, steht Kopelew politisch dem Nobelfriedenspreisträger Andrej Sacharow nahe. Als die Sowjets Sacharow nach Gorki verbannten, richteten Lew Kopelew, Raissa Orlowa und andere unerschrockene sowjetische Intellektuelle ein Protestschreiben an die Kremlführung. Die Sowjets standen vor der Alternative — einen Prozess gegen Kopelew anzustrengen, oder ihn in den Westen abzuschieben. Da Kopelew eine weltbekannte Figur ist und im Ausland — insbesondere in der Bundesrepublik — viele Freunde hat, zu denen unter anderen Heinrich Böll zählt, entschloss sich Moskau, ihn “zwangsauswandern” zu lassen. Bald nach Ankunft der Kopelews in der Bundesrepublik wurden sie — auf Anordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR — ausgebürgert.
Kopelew ist Verfasser mehrerer autobiographischer,literaturwissenschaftlicher und gesellschaftskritischer Werke die im Westen erschienen und in mehrere Sprachen übersetzt worden sind. Eines der Themen, dem Lew Kopelews besonderes Interesse gilt, sind die russisch-deutschen geistigen Wechselbeziehungen im laufe der Jahrhunderte. Kopelew beherrscht Deutsch fast genau so wie seine russische Muttersprache. In der UdSSR zählte er zu den prominentesten Germanisten. Heute hält er Vorlesungen an mehreren westdeutschen Universitäten. Seine Artikel erscheinen oft in der Hamburger “Zeit” und in anderen bundesdeutschen Publikationen. Gegenwärtig hält sich Lew Kopelew mit seiner Frau Raissa in den Vereinigten Staaten auf, wo er auf Einladung einiger US-Universitäten eine Reihe von Vortragszyklen hält, zuletzt (auf deutsch) in der Columbia-Universität. Vor kurzem gewährte Kopelew dem Chefredakteur der New Yorker russischsprachigen Tageszeitung “Novoye Russkoye Slovo” Andrej Sedych ein längeres Interview. Seine Ansichten über die gegenwärtige russische Kultur, die intellektuelle und politische Situation in der UdSSR begegnen höchstem Interesse.
“Vieles hat sich in jüngster Zeit in der UdSSR verändert”, erklärte Kopelew in seinem Interview. Manches habe sich verschlechtert, aber auch positive Wandlungen seien zu verzeichnen. Zu diesen rechnet Kopelew die Veröffentlichung mancher literarischer und wissenschaftlicher Werke, die — vom ideologischen Gesichtspunkt aus — noch vor einem Jahrzehnt nur im Samisdat (Untergrundliteratur) hätten erscheinen können. Dabei handele es sich keineswegs um eine Liberalisierung der Moskauer Parteiführung, vielmehr lasse sich dieses Phänomen darauf zurückführen, dass die kommunistische Ideologie ungeachtet westlicher Fehlschüsse “tot ist”.
“Zensur gibt es in Russland nach wie vor”, sagt Kopelew. “Doch haben sich die dominierenden Tendenzen geändert. Heute ist die sowjetische Zensur hauptsächlich gegen Autoren gerichtet, deren Namen in sogen. “schwarzen Listen” verzeichnet sind. Doch von Zeit zu Zeit erscheinen in der UdSSR, trotz aller Wachsamkeit der Zensoren, sowohl theologische als auch philosophische und wissenschaftliche Schriften, die eindeutig nonkonformistisch sind. Das beweise, dass die kommunistische Ideologie ihrer Vitalität verlustig gegangen sei.
Kopelew behauptet mit Recht, dass die kommunistische Ideologie in der UdSSR durch grossrussischen Chauvinismus verdrängt und ersetzt wird. Allmählich werde Chauvinismus zur faktischen Staatsideologie. Das gelte nicht nur für Kulturfunktionäre, sondern auch für führende Beamte des KGB. sowie hohe Würdenträger der Politleitung der Armee.
Zur Frage, wie die Sowjetbevölkerung auf die Ereignisse in Polen reagiert, sagte Kopelew, der KGB sorge für die Verbreitung antipolnischer Gerüchte. “Warum gibt es bei uns kein Fleisch, keine Butter?” fragen die sowjetischen Konsumenten in den endlosen Schlangen vor den Lebensmittelhandlungen. Die KGB-Leute haben ihre Antwort parat: “Wir haben kein Fleisch und keine Butter, weil wir die Polen mit unseren Vorräten versorgen müssen.” Lew Kopelew, der seinen marxistischen Idealismus endgültig überwunden hat, ist — im Gegensatz zu manchen anderen Sowjetdissidenten — keinem anderen Fanatismus verfallen. Seine Berichte sind objektiv und vorurteilslos.

L.K.

[Aufbau Dec. 18, 1981. p.6]

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