Machtkampf im Kreml?

Der Tod des sowjetischen Chefideologen Michail Suslow war zweifellos ein Wendepunkt in der Machtkonstellation des Kremls. Suslow war nicht nur Chefideologe und unumstrittener Leiter der internationalen kommunistischen Bewegung, sondern verfügte auch über die entscheidende Stimme im sowjetischen Politbüro. Er zog es vor, sieh im Schatten zu halten Dessenungeachtet war es Michail Suslow, der 30 Jahre lang die treibende Kraft im Entscheidungsprozess des Kremls war. Suslow war sozusagen “Gralshüter” des Marxismus-Leninismus: er war auch ein Neostalinist reinster Prägung. Treu und ergeben diente Suslow dem sowjetischen Tyrannen.
Stalin schätzte Suslows Ergebenheit und organisatorische Fähigkeiten. 1947 ernannte ihn Stalin zum Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU. Diesen Posten hatte Suslow bis zu seinem Tode inne. der ihn im Alter von 79 Jahren vor einigen Wochen ereilte.
1949 entsandte Josef Stalin seinen treuen Gefolgsmann nach Budapest, wo er auf einer Kominform-Konferenz die “verbrecherische Tätigkcit der Tito-Rankovic-Clique” brandmarkte. Suslows Laufbahn als Leiter der kommunistischen Weltbewegung nahm taktisch in Budapest ihren Anfang.
Nach Stalins Tode am 5. März 1953 strebte Suslow keineswgs nach den Hauptwürden in Partei und Regierung. Er blieb — als Politbüro-Mitglied und ZK-Sekrctar — nach wie vor im Schatten. Anfangs unterstutzte er Parteisekretär Chruschtschew und Premierminister Malenkow. Aber schon 1957 entzog er Malenkow seine Gunst und stand Chruschtschew zur Seite, der damals das Amt des Generalsekretärs der Partei mit dem des Premiers in sich vereinigte. Sieben Jahre lang duldete der sowjetische Chefideologe Chruschtschew und dessen oft ungeschickte Reformversuche. Doch als sich Chruschtschew in Fragen ideologischer Natur (also in Suslows Machtbereich) einzumischen begann, waren seine Tage gezählt. Chruschtschews Sturz wurde durch dessen Versuch, die KPdSU organisatorisch umzustrukturieren, beschleunigt.
Suslow gelang es ohne besondere Mühe, seine Politbüro-Kollegen gegen Chruschtschew zu stimmen und dessen Sturz effektiv vorzubereiten. Auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees im Oktober 1964 wurde Chruschtschew entmachtet und Leonid Breschnjew zum neuen Generalsekretär des ZK der KPdSU ernannt. Suslows Wahl fiel auf den Zentristen Breschnjew, da er an dessen Fügsamkeit keine Zweifel hegte.
Suslow spielte eine entscheidende Rolle bei sämtlichen aussenpolitischen Aktionen des Kremls — bei der blutigen Niederschlagung des ungarischen Aufstandes 1956, der Invasion der Tschechoslowakei 1968 und der antipolnischen Kampagne 1980-1981.
Westliche Kreml-Beobachter hatten im Zusammenhang mit Suslows Tode wohl auf seine Rolle als Chefideologen und seine Schlüsselposition im Entscheidungsprozess des Kremls hingewiesen, hatten aber nicht ahnen können, dass nur wenige Wochen nach Suslows Tod Breschnjews Machtstellung ins Wanken geraten könnte.
Laut jüngsten Meldungen westlicher Korrespondenten aus Moskau hat der Machtkampf im Kreml schon begonnen. Ohne Suslows schützende Hand ist Breschnjew unmittelbar in Gefahr geraten, bald in den Ruhestand entlassen zu werden. Davon zeugen die Verhaftungen des Zirkusartisten Boris Zwigow und des sowjetischen Zirkus-Chefs Anatolij Kolowatow. Es handelt sich hierbei um einen für Sowjetverhältnisse gigantischen Finanzskandal. Bei einer Haussuchung wurden in der Wohnung des Zirkusartisten Brillanten und Banknoten in Westwährung in der Gesamthöhe von 1.2 Millionen Rubel (etwa 1.7 Mio. US-Dollar) vorgefunden. Von ausserordentlicher politischer Bedeutung ist hierbei der Umstand, dass Galina, die 51jährige Tochter Leonid Breschnjews, die mit dem Zigeuner Boris Zwigow “befreundet” war, im Zusammenhang mit dessen Verhaftung von der Polizei als Zeugin vernommen wurde. Breschnjews Tochter ist verheiratet. Ihr gegenwärtiger Gatte Jurij Tschurbanow ist stellvertretender Minister für innere Angelegenheiten der UdSSR. Jüngst in New York City eingetroffene sowjetjüdische Emigranten aus Moskau bestätigen die westlichen Informationen über die Freundschaft zwischen der Breschnjew-Tochter und dem Zirkusartisten. Diesen ehemaligen Moskauern zufolge sei es in der sowjetischen Hauptstadt ein offenes Geheimnis, dass Boris Zwigow nicht nur Hausfreund bei den Tschurbanows, sondern auch ein häufiger Gast bei Leonid Breschnjew und dessen Frau gewesen sei.
Hunderte von Moskauern haben vor einiger Zeit bei einem Theaterbesuch in einer der Ehrentagen die Gattin des sowjetischen Staats- und Parteichefs in Begleitung von Boris Zwigow erblickt. Das war natürlich eine Sensation ersten Ranges. Der Zirkusartist hat in Moskau zwei Spitznamen: “Boris der Zigeuner” und der “Millionär”. Dass der “Millionär” mit der Familie Breschnjew befreundet war, wusste nun die ganze Stadt. Westliche Journalisten haben die Nachricht von der Verhaftung Zwigows und Kolowatows mit einer gewissen Verspätung erfahren. Aus gut informierten Moskauer Quellen geht hervor, dass obenerwähnte Haussuchung unmittelbar nach Suslows Tod vergenommen wurde.
Die Tatsache, dass die Breschnjew-Tochter von der Polizei zu einem Verhör vorgela den wurde, zeugt zweifellos von einer erheblichen Schwächung der Position des sowjetischen Präsidenten. Zu Suslows Lebzeiten hatte es niemand gewagt, die Breschnjew-Tochter zu einer Vernehmung vorzuladen. Der KGB wusste schon längst von Boris Zwigows extravaganter Lebensweise und seiner Freundschaft mit Galina, die kein Hehl aus ihrer Freundschaft machte.
Das bedeutet zweifellos, dass gewisse Mitglieder des Politbüros der Ansicht sind, dass eine Wende in der sowjetischen Machthierarchie durchaus möglich sei.
Auch die Entlassung General Konstantin Sotows, des Chefs der Moskauer Pass- und Visa-Behörde (OVIR), ist symptomatisch. Sowjetemigranten aus Moskau berichteten schon vor einigen Monaten, dass Auswanderungsvisen für 3000-4000 Rubel (3600-4500 US-Dollar) “gekauft” werden könnten. Wenn man dort die rechten Leute kenne, so liessen sich solche Geschäfte machen.
Warum wurden beide Operationen (Verhaftung von Kolowatow und Zwigow und Entlassung von Konstantin Sotow) fast gleichzeitig vorgenommen? Breschnjew hatte sich jahrelang für die Détente und die Auswanderung der Sowjetjuden — als Preis für die “Entspannungspolitik” — eingesetzt. Sotow stand bisher in hohem Ansehen. Der gleichzeitige Start der Offensive gegen den OVIR-Chef und der Zirkusaffäre ist eindeutig gegen Leonid Breschnjew gerichtet.
Bisher haben westliche Kremlinologen herumgerätselt, wer Breschnjews Nachfolger werden könnte. In diesem Zusammenhange wurden meist die Namen seiner engsten Freunde im Politbüro (Kirilenko und Tschernenko) genannt. Offensichtlich kommen diese Kandidaten — angesichts der jüngsten Ereignisse — kaum mehr in Frage. Eine neostalinistische Troika hätte eventuell grössere Aussichten auf Frfolg. Womögliche Anwärter wären KGB-Chef Andropow, Verteidigungsminister Ustinow und Grischin, der Moskauer Parteichef.
Es wird wohl nicht allzu lange dauern, bis die Welt von den Änderungen in der Machthierarchie des Kremls erfahren wird.

[Aufbau Mar. 26, 1982. p.2]

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