Feldzug gegen sowjetjüdische Gelehrte

Aberkennung akademischer Grade — Kampfmittel gegen auswanderungswillige Wissenschaftler

Während noch vor einigen Jahren westliche Journalisten zahlreiche ihrer Korrespondenzen dem Kampf der Sowjetjuden um ihr Auswanderungsrecht widmeten, wird heute das Schicksal von Zehntausenden “Refuseniks” von der westlichen Presse meist ignoriert. Die Auswanderung der Sowjetjuden wird von den amerikanischen und westeuropäischen Massenmedien als weniger “sensationell” betrachtet, als sie noch vor einem Jahrzehnt zu sein schien. Obwohl es 1969-1981 etwa 260.000 Sowjetjuden gelungen ist, nach Israel oder Nordamerika auszuwandern, darf doch nie vergessen werden, dass es in der Sowjetunion offiziell keine Emigration gibt Die sowjetjüdische Massenauswanderung wurde vom Kreml als “Familienvereinigung” bezeichnet.
Jeder Sowjetjude, der sich um Gewährung eines Ausreisevisums bemüht, ist sich dessen bewusst, dass er ein ernstes Risiko auf sich nimmt. Unter missgünstigen, von ihm völlig unabhängigen Umständen können er und seine Familie zu Parias in der Sowjetgesellschaft werden. Er setzt sogar seine Freiheit und Sicherheit aufs Spiel. Es gibt Hunderte Refuseniks, die schon 8-10 Jahre lang eine qualvolle Marginalexistenz führen. Ihre ehemalige berufliche Tätigkeit ist ihnen (nach Auswanderungsverweigerung) versagt. Ehemalige Physiker, Ärzte, Biologen und sonstige Akademiker werden meist nur als Heizer, Lastträger, Strassenfeger, Hilfsarbeiter u. dgl. angestellt. Wenn diese Unglücklichen länger als einen Monat erwerbslos sind, droht ihnen die Gefahr, als “Schmarotzer” aus ihrer Heimatstadt verbannt zu werden. Die Kinder der Refuseniks werden in der Schule oft erniedrigt und als Zionisten” verhöhnt.
Besonders schlimm ist die Situation der sowjetjudischen Gelehrten, denen die Auswanderung verweigert wird. 1969-1980 wurde die Auswanderungsverweigerung sowjetjüdischer Gelehrter meist damit begründet, dass die betreffenden Doktoren oder Akademiker “Staatsgeheimnisse” kannten. Somit wurde die Absage mit sicherheitspolitischen Gründen motiviert. Obzwar nach Verlauf von drei bis fünf Jahren für diese “Ge heimnisse” im westlichen Ausland — sogar von sowjetischem Standpunkt aus — keinerlei Interesse mehr besteht, werden zahlreiche sowjetjüdische Gelehrte systematisch — unter Hinweis auf Kenntnis staatlicher “Geheimnisse” — an der Auswanderung verhindert.
Am 3. August 1972 unternahm der Kreml den Versuch, eine “akademische Steuer” einzuführen. Auf diesem Weg sollten mehrere Ziele gleichzeitig erreicht werden. Einerseits sollte der Auswanderungsstrom von Fachleuten aufgehalten werden; andererseits hoffte die Moskauer Führung, durch Einführung der akademischen Steuer auf westliche Finanzkreise Druck ausüben zu können. Es war ein Versuchsballon. Vielleicht würden sich amerikanisch-jüdische Organisationen und individuelle Wohltäter bereit erklaren, ihre russischen Glaubensgenossen freizukaufen? Doch schon nach Verlauf von wenigen Monaten sahen sich die Sowjets genötigt, die akademische Steuer abzuschaffen; einflussreiche politische und akademische Kreise des Westens hatten energisch gegen diese Finanzwillkür protestiert. Es war die Blütezeit der Détente. Der Kreml hatte sich verrechnet und war bereit, nachzugeben.
Obgleich sich die Regierung Reagan schon bald anderthalb Jahre lang in antisowjetischer Rhetorik ergeht, lässt das Weisse Haus die flagrante Verletzung der Menschenrechte in der UdSSR (wie ja übrigens auch anderorts) faktisch ausser Acht. Die Folgen dieses Desinteresses liessen nicht lang auf sich warten: die Zahl der in Wien eintreffende sowjetjüdischen Emigranten sinkt von Monat zu Monat und liegt gegenwärtig unter 3OO im Monatsdurchschnitt.
Fast völlig unbekannt ist im Westen die Tatsache, dass in jüngster Zeit zahlreichen auswanderungswilligen sowjetjüdischen Akademikern ihr akademischer Grad (Doktor- oder Magisterwürde) entzogen worden ist. Nach Angaben des B’nai B’rith International lassen sich etwa 60 Fälle nachweisen, wo sowjetjüdische Gelehrte — kurz nach ihrem Auswanderungsantrag — ihrer akademischen Grad verlustig gegangen sind. Es handelt sich hierbei keineswegs um Dissidenten oder Aktivisten. Offensichtlich beabsichtigen die Sowjets durch diese neue repressive Massnahme, andere Auswanderungswillige einzuschüchtern. Diese jüngste Entwicklung widerspricht nicht nur dem Geist von Helsinki, sondern sogar früheren sowjetischen Direktiven. So schrieb z. B. die sowjetische Regierungszeitung “Iswestija” am 2 August 1975 (also vier Wochen vorUnterzeichnung des Helsinki-Manifests): “Der Antrag auf Familienvereinigung darf nicht zu Veränderungen der Rechte und Pflichten der Antragsteller oder deren Familienmitglieder führen”. Offenbar hat sich der Kreml in jüngster Zeit eines Besseren besonnen
Mehrere Gruppen sowjetjüdischer Mediziner, Biologen, Mathematiker, Physiker und anderer Gelehrter haben an israelische Forschungsinstitute und an die amerikanische National Academy of Sciences appelliert, die Weltöffentlichkeit über diese jüngsten Ereignisse in der UdSSR zu informieren. Einer dieser Briefe wurde von 12 hervorragenden und höchst angesehenen sowjetjüdischen Gelehrten unterzeichnet.
Aus den im Westen vorhandenen Berichten geht hervor, dass sich die sowjetischen Behörden (zwecks Rechtfertigung ihrer neuesten antisemitischen Massnahmen) auf Paragraph 104 des Statuts der AllunionsAttestations-Kommission (AAK), der höchsten Sowjetinstanz für Sanktionierung wissenschaftlicher Grade, berufen. In genanntem Paragraphen heisst es, dass in Fällen, wo die Handlungen der betreffenden Akademiker in Widerspruch zu den Normen des Benehmens eines sowjetischen Gelehrten stehen, der wissenschaftliche Grad aberkannt werden kann. Das AAK-Statut existiert schon seit Jahrzehnten. Aber erst unlängst hat man (offensichtlich auf höchster Ebene) beschlossen, Paragraph 104 gegen Sowjetjuden in Anwendung zu bringen. Es handelt sich hierbei nicht nur um einen Einschüchterungsversuch, sondern auch um ein allgemeines Symptom der Verschlimmerung der Sowjetjüdischen Situation.
Amerikanisch-jüdische Organisationen sind im Besitz eines Protokolls der Sitzung des Gelehrtenrats der geologischen Fakultät der Moskauer Universität. Auf dieser Sitzung wurde dem Geophysiker W. Melamed sein Magistertitel (nach 30jähriger wissenschaftlicher Tätigkeit) aberkannt. Prof Kalinin und andere Fakultätsmitglieder qualifizierten Dr. Melameds Wunsch, nach Israel auszuwandern, als “antipatriotische Aktion”, die eines Sowjetgelehrten unwürdig sei. Prof Kalinin sagte u.a. Folgendes: “In unserem Land misst man einem wissenschaftlichen Grad grossere Bedeutung bei als in kapitalistischen Ländern. Melameds Verhalten ist antipatriotisch. Seine Absicht, in der gegenwärtigen internationalen Situation, die einem kalten Krieg nahekommt, auszuwandern, offenbart Antipatriotismus. Melamed hat eine Strafe verdient. Er ist unwürdig, seinen wissenschaftlichen Grad beizubehalten”. Bei der Stimmabgabe (am 20. Januar 1982) sprachen sich 16 Personen für Aberkennung des wissenschaftlichen Grads im Fall Melamed aus; nur ein Fakultätsmitglied stimmte dagegen.

L.K.

[Aufbau Jul. 2, 1982. p.7]

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