Kafka-Szenen in Moskau

Die Leiden der Ida Nudel

Ida Nudel, eine prominente sowjetjüdische Aktivistin, wurde 1978 zu mehreren Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Der wahre Grund für die drakonische Härte des Urteilspruchs war Idas hartnäckiger Entschluss, nach Israel auszuwandern. Jahrelang war ihr die Auswanderungsgenehmigung verweigert worden. Als die damals 50jährige Volkswirtschaftlerin 1978 auf dem Balkon ihrer Moskauer Wohnung ein Plakat mit der Aufschrift “Lasst mich endlich nach Israel ziehen” anbrachte, wurde sie verhaftet und kurz darauf nach Sibirien verschickt.
Die Weltpresse berichtete vielfach über die Leiden der tapferen Frau. Jahrelang verbrachte sie in einer gottverlassenen Gegend Sibiriens. Von den Behörden wurde ihr ein Zimmer in einem Haus angewiesen, dessen Mitbewohner ehemalige Kriminelle waren. Sie war in dieser düsteren Behausung die einzige Frau und lebte ständig in der Gefahr, von ihren fast ständig betrunkenen Nachbarn vergewaltigt zu werden. Nur ihre innere Kraft und ihr Traum, in Israel als freier Mensch zu leben, befähigte sie, die Einsamkeit, Erniedrigung und den seelischen Druck auszuhalten.
Als Mitte 1982 die sibirische Verbannungsfrist abgelaufen war, hofften Verwandte und Freunde, dass die Sowjets ihr ein Ausreisevisum gewähren würden. Bis vor wenigen Jahren legte die sowjetische Pass- und Visenbehörde (OVIR) ehemaligen “Gewissenshäftlingen”, die ihre Strafe abgebüsst hatten, bei der Auswanderung keine Hindernisse in den Weg. Ida Nudels Schwester Elana lebt in Israel. Ida kennt zudem keine “sowjetischen Staatsgeheimnisse”, wie es sonst zur Begründung der Ausreiseverweigerung angeführt wird. Familienzusammenführung wäre in diesem Fall eine elementare humanitäre Forderung, die sich auch aus dem dritten “Korbe” der Helsinki-Schlussakte ergibt. Dass ihr auch in diesem Fall nicht entsprochen wurde ergibt sich aus der in den letzten zwei bis drei Jahren katastrophal verschlechterten sowjetjüdischen Situation.
In jüngster Zeit treffen monatlich weniger als 190 sowjetjüdische Auswanderer in Wien ein. Infolge der sich ständig verdüsternden amerikanisch-sowjetischen Beziehungen gibt sich der Kreml nicht einmal die Mühe, den Anschein zu erwecken, als nähme man in der UdSSR die Helsinki-Verpflichtungen ernst.
Die amerikanisch-jüdische Organisation “Union of Councils for Soviet Jews” berichtete kürzlich über den Inhalt eines Telefongesprächs zwischen Ida und ihrer Schwester Elana. Darin schildert Ida Nudel ihre Unterredungen mit sowjetischen Beamten. Anfangs wandte sie sich an einen hochgestellten Sowjetbeamten namens Iwanow. Sie ersuchte ihn, ihr den Aufenthalt in Moskau zu gestatten und die Auswanderung nach Israel zu bewilligen. Iwanow sagte leise, fast hoflich: “Reichen Sie eine Bittschrift ein. Rufen Sie mich danach an.”
Schon am folgenden Tag überreichte Ida der Sekretärin ihr Gesuch. Als es ihr einige Tage später gelang, Iwanow per Telefon zu erreichen, fuhr er sie barsch an: “Was wollen Sie denn eigentlich? Ach so, Sie wollen ja ausreisen.” Darauf folgte ein dröhnendes höhnisches Gelächter.
Iwanow hatte Ida Nudel die Telefonnummer eines gewissen Wladimir Borissenko, des stellvertretenden Direktors einer für Auswanderungsfragen zuständigen Abteilung des Innenministeriums der UdSSR, gegeben. Nach einem telefonischen Anruf wurde sie von Borissenko persönlich empfangen. Der Beamte, der Idas Akten kannte, versicherte ihr, sie werde die Möglichkeit haben, mit Rudolf Kusnezow, dem Chef des OVIR, zu sprechen.
Die Unterredung fand tatsächlich statt und verlief wie folgt:
Ida: Borissenko hat mich zu Ihnen geschickt. Er meinte, Sie könnten mir helfen, die vor mir stehenden Probleme zu lösen.
Kusnezow: Welche Probleme?
Ida: Es handelt sich um die Erlaubnis zum Aufenthalt in Moskau und um die Bewilligung meiner Auswanderung nach Israel.
K.: Was den Aufenthalt in Moskau anbetrifft, so müssen Sie sich an das zuständige Polizeiamt wenden.
I.: Aber die Polizei und der Stadtrat haben mir schon eine abschlägige Antwort erteilt. Ich sprach mit Iwanow. Er schickte mich zu Borissenko. Der hat mich wiederum zu Ihnen geschickt.
K.: Wenden Sie sich an die Polizei.
I.: Das habe ich ja schon getan.
K.: Ersuchen Sie die Polizei um eine Aufenthaltserlaubnis.
I.: Warum quälen Sie mich denn? Wir beide sprechen doch russisch, und Sie begreifen, dass die Polizei meine Bitte abgeschlagen hat.
Rudolf Kusnezow blickte Ida scharf an und wiederholte seine wie eine Drohung klingende Anweisung, sich an die Polizei zu wenden.
Der örtliche Polizeichef empfing Ida und sagte unwirsch: “Jetzt sind Sie schon wieder hier. Sie werden einer Strafe nicht entgehen.”
Ida glaubte schon, man beabsichtige, sie wieder nach Sibirien zu verbannen. Deshalb kehrte sie in ihre Wohnung zurück, packte warme Kleidungsstücke in einen Koffer und erschien bald darauf auf dem Polizeirevier. Der gleiche Beamte erklärte lakonisch: “Sie dürfen sich 72 Stunden in Moskau aufhalten. Wenn Sie binnen dieser Frist die Stadt nicht verlassen haben, gewähre ich Ihnen noch weitere 72 Stunden. Falls Sie aber dann noch in Moskau herumlaufen, stecken wir Sie auf mindestens ein Jahr in ein Arbeitslager.”
Nach Verlauf der ersten 72 Stunden begab sich Ida zu einem Staatsanwalt, um sich über die Anweisung der Polizei zu beschweren. Es war der gleiche Staatsanwalt, der sich im Jahr 1978 mit ihrem Fall befasst hatte. Er hörte sie an, gab ihr aber weder eine Auskunft noch einen Rat.
Im Moskauer Stadtrat hiess es, eine Antwort bezüglich des Wohnaufenthalts würde äusserst lange Zeit in Anspruch nehmen. Ida Nudel verbrachte danach mehrere Wochen in verschiedenen russischen Städten. Gehetzt und gejagt fährt sie von Ort zu Ort; oft übernachtet sie auf dem Bahnhof.

L.K.

[Aufbau Oct. 8, 1982. p.7]

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