Neue atheistische Propaganda in der UdSSR

In der Sowjetunion wird zurzeit eine von der kommunistischen Partei initiierte Kampagne betrieben, die die bisherige atheistische Propaganda zu “vervollkommnen” sucht. Zeitungsartikel und Rundfunk- und Fernsehsendungen zeugen davon, dass sich der Kreml der nur geringen Effektivität der bisherigen durchaus primitiven atheistischen Propaganda durchaus bewusst ist. Schon über 60 Jahre lang haben sich die Methoden der von der Partei betriebenen antireligiösen Propaganda nur um ein geringes geändert. Die in der UdSSR jetzt verkündeten Richtlinien zur Erhöhung des intellektuellen Niveaus des antireligiösen Kampfes stehen in engstem Zusammenhang mit dem ständig im Wachsen begriffenen Interesse der Sowjetjugend an geistlichen Fragen. Radio-Moskau hat unlängst erklart, die atheistische Erziehung der Bevölkerung lasse sich nicht mit primitiven, schablonenhaften Mitteln betreiben.
Besonders intensiv wird die jüngste atheistische Kampagne in denjenigen Sowjetrepubliken betrieben, wo die religiöse Erneuerungsbewegung mit nationalistischen Tendenzen der örtlichen Bevölkerung verbunden ist. Hierbei handelt es sich um die Ukraine, Bjelorussland und die drei baltischen Republiken, wo es die meisten Katholiken, Lutheraner und Baptisten gibt.
Nicht geringere Sorgen bereiten den Sowjets die Republiken Mittelasiens. Hier leben die meisten Moslems der UdSSR. Der Kreml ist um die womögliche Beeinflussung der Sowjet-Moslems durch ihre islamischen Glaubensbrüder im Iran und in Afghanistan besorgt.
Die jüngst verschärfte atheistische Kam pagne offenbart sich in zahlreichen von der Partei ins Leben gerufenen Aktivitäten. Im ganzen Land werden jetzt neue Lehrgänge für die Heranbildung von Propagandisten des Atheismus organisiert. Die Sowjetpresse veröffentlicht fast täglich Artikel, die die Bevölkerung zur “Wachsamkeit” aufrufen und sie davor warnen, “den listigen Predigern und sog. Bibelkennern auf den Leim zu gehen”. Sowjetlehrern wird empfohlen, ihren Zöglingen die “wissenschaftlichen Grundlagen des Atheismus” auf höherem intellektuellen Niveau als bisher beizubringen.
In der an den Iran grenzenden Turkmenischen Sowjetrepublik sollen 22 “Volksuniversitäten” begründet werden. Das Lehrprogramm sieht diverse Kurse auf dem Gebiet des “wissenschaftlichen Atheismus” vor. Die Absolventen dieser zweijährigen Lehranstalten sollen antireligiöse Propaganda in den Mittel- und Hochschulen der Republik betreiben. Im Januar d.J. wurde in Aschchabad, der Hauptstadt Turkmeniens, die erste atheistische “Universität” feierlich eröffnet.
Die Zeitungen der Lettischen Sowjetrepublik berichten, dass es in Lettland 6000 Propagandisten des Atheismus gebe. Die in Riga erscheinende lettischsprachige Zeitung “Zinja” (Kampf) hat unlängst einen Leitartikel unter dem Titel “Wirksame Methtoden der atheistischen Volkserziehung sind vonnöten” veröffentlicht. Im Artikel heisst es u.a.: “Unsere unbestreitbaren Erfolge bei Bekämpfung religiöser Vorurteile bedeuten noch keineswegs, dass die Religion von selbst absterben wird. . . Die Religion gehört nach wie vor zu den gefährlichsten Formen der ideologischen Opposition”. Die Verfasser des Zinja-Artikels rufen die “Arbeiter der ideologischen Front” dazu auf, den antireligiösen Kampf, der “für die Rettung des Menschen und um des Menschen willen geführt wird”, zu aktivieren.
Doch nicht nur in Mittelasien und in den westlichen Republiken des europaischen Teils der UdSSR wird der atheistische Kampf verstärkt. Auch in Zentralrussland wird um “Geist und Seele” des Sowjetmenschen gerungen. Die Partei setzt alles daran, den “schädlichen Einfluss der Geistlichen” zu bekämpfen. Vor mehreren Wochen schrieb z.B. die Iswestija: Es gibt Leute, die sich den Illusionen hingeben, dass Religion unschädlich sei. Hierbei wird aber ausser acht gelassen, dass die antiwissenschaftliche Natur jeglicher Religion — ungeachtet raffinierter Tarnungversuche heutiger Geistlicher — unverändert bleibt. Die Religion hemmt die schöpferische und gesellschaftliche Entwicklung des Menschen”.
Amerikansiche und westeuropäische Korrespondenten berichten häufig über eine angebliche religiöse Renaissance in der UdSSR. Das Ausmass dieser geistlichen Erneuerungsbewegung lässt sich zurzeit kaum präzisieren. Die Besorgnis des Kremls um die Effektivität der atheistischen Propaganda zeugt jedoch von der Existenz sich vertiefender religiöser Strömungen im Land. Die Sowjetführung würde sich wohl kaum grundlos Sorgen machen und Millionen Rubel zur Bekämpfung der Religion vergeuden.
Tatsache ist, dass die Sowjetjugend die marxistiscn-leninistischen Losungen (wie z.B. “Religion ist Opium für das Volk”) schon längst nicht mehr ernst nimmt. Für zahlreiche Jugendliche sind Kirche und Religion fast der einzige Weg, die Leere des staatlich reglementierten Sowjetlebens geistig zu überwinden.
Die heutige atheistische Kampagne ist kausal mit den Bemühungen der Sowjetführung verbunden, den ideologischen Kampf der Partei auf ein höheres Niveau zu heben. Den Auftakt zur gegenwärtigen atheistischen Kampagne hat Leonid Breschnjew in seiner Rede auf dem 26. Parteikongress im Februar 1981 gegeben. Breschnjew sprach damals von der Notwendigkeit, die idiologische Erziehung der Bevölkerung im Geist des Kommunismus zu modernisieren. Man müsse endgültig auf “fertige Formeln” und “primitive Gedankengänge” verzichten. Die Prawda konkretisierte die Äusserungen des sowjetischen Parteichefs und wies den Weg zu einer “modernen antireligiösen Kampagne”.
Die Prawda warnte auch vor den seitens der westlichen Grossmächte ausgehenden Gefahren, die angeblich der Sowjetjugend drohen. Das sowjetische Parteiorgan hob in den vergangenen Monaten mehrfach hervor, dass der Westen danach trachte, die Sowjet jugend durch religiöse Propaganda zu “vergiften” und den Pazifismus in der UdSSR zu verbreiten Auf diese Weise hoffe der “Imperialismus”, die militärische Macht der Sowjetunion zu schwächen.
“Westliche Spionagezentren” werden von den Sowjets bezichtigt, die ideologische Einheit des Sowjetvolkes unterwühlen zu wollen. Derartige Beschuldigungen sind weder neu noch originell. Sämtliche innenpolitische Misserfolge werden in der UdSSR schon jahrzehntelang als Ergebnis “imperialistischer Umtriebe” bezeichnet.

L.K.

[Aufbau Oct. 22, 1982. p.6]

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